Vor einer Woche ist hier im Kellerarbeil dieses Zitat zur Schulreform aufgetaucht.
Verändert wird innerhalb des bestehenden Systems – aber es wird nicht im System verändert. Nach wie vor werden die 10jährigen nach der Volksschule ihrer “Leistung” entsprechend entweder der Hauptschule oder der AHS zugeordnet. Beim besten Willen ist von einer Integration der getrennten Schultypen nichts zu sehen – trotz der gesetzlich vorgesehenen, lang erprobten sogenannten “Gesamtschulversuche”. Eben: Es waren ja nur sogenannte Gesamtschulversuche, ein “österreichisches Modell”, letztlich ein Etikettenschwindel.
Meine Frage an die LeserInnen dieses Blogs damals lautete, von wem könnte diese Kritik stammen? Dazu gab es eine Abstimmung, vier Antworten standen zur Wahl. Susanne Dermutz, Jörg Haider, Susanne Jerusalem, Veit Sorger. Die oben zitierte Aussage wurde offensichtlich allen Personen zugetraut, niemand bekam weniger als 4 Stimmen und niemand mehr als 8.
Nun, das ist für sich bereits ein interessantes Ergebnis, oder?
Erster Teil einer — geplanten — kleinen Serie über die gesellschaftliche Funktion der Schulbildung für die soziale Institution “Bildung” allgemein; und über die österreichische Schulbildung im Speziellen.
Das Bildungssystem Österreichs. Es hat so etwas wie eine historische Geburtsstunde. Das kann gut in der Wikipedia nachgelesen werden (siehe Link). Für das herausragende Ereignis, die Geburtsstunde unseres Bildungswesens, müssen wir freilich kaum nachlesen (höchstens die genaue Jahreszahl). Es ist allgemeines Wissen in Österreich, sogenannte Allgemeinbildung und mehr noch, Teil unseres kulturellen Gedächtnis:
Die Schulpflicht ist in Österreich bereits unter Maria Theresia ((Das wird auch allenthalben in Artikeln der Tagespresse hervorgehoben, zuletzt im Standard am 17. April 2007 in einem Bericht zu den Visionen der Industriellenvereinigung für eine Schulreform in Ö.)) eingeführt worden.
Gut, es heißt richtig Unterrichtspflicht und nicht die Schulpflicht. Nichtsdestotrotz, unser Bildungssystem, das staatlich organisierte und die Gesamtheit der Bevölkerung erfassende Schulsystem, ist deutlich früher als das vieler anderen europäischen Nationen aufgebaut und eingeführt worden. Das aufgeklärte Frankreich, la grande nation? 1882! Na also, vergleichsweise rückständig.
Das Comeback der Bildungsdebatte
Bildung, der Begriff ist so halb und halb wieder in aller Munde. Die Debatten, die unter dem Label “Bildungsdebatten” öffentlich geführt werden, sie berühren allerdings nur am Rande bis oft einmal auch gar nicht, worum es sich bei “Bildung” handelt; d.h., welche Funktion Bildung in der Gesellschaft erfüllt und welche Bedeutung Bildung für das Funktionieren der Gesellschaft spielt.
Dass in den Bildungsdebatten nicht über Bildung sondern über nationale Rankings, über Reformen, Reförmchen und Rettungsversuche einer spezifischen, im deutschsprachigen Raum herausgebildeten Struktur des Schulwesens diskutiert und gestritten wird, das stellt erstens keine Überraschung dar und ist zweitens eine logische Konsequenz der Funktionsweise von Bildung selber. Drittens sind all diese Debatten noch lange keine Katastrophe, nur weil nun nicht über Bildung diskutiert wird, nicht im mindestens. Diese Debatten sind wichtig. Die Punkte, um die gestritten wird, haben einige gesellschaftliche Relevanz, sie machen einen Unterschied.
Und mir liegt absolut nichts daran, mit der selbstgerechten Elfenbeinturmgeste mancher Philosoph_innen die Bedeutung all dieser “ach so naiven” Bildungsdebatten wegzuwischen um zu posaunen:
Ich hätte freilich gar nichts dagegen, wenn der Begriff diskutiert würde, den wir gemeinhin von Bildung (und Erziehung) haben. Ich bin ein großer Freund von jedem Dialog, in dem abgeklärt werden könnte, ob “wir” den Begriff zur Sache teilen oder nicht teilen, ein bißchen in den Sichtweisen variieren oder von fundamental Unterschiedlichem sprechen? Hey, dagegen ist gar nichts zu sagen!
Ich will sogar genau das in einer kleinen Serie von Beiträgen versuchen; mit der Betonung freilich auf versuchen ((Also, so sieht mein Plan zumindest aus. Was will ich thematisieren? Den Humbug des idealistischen Bildungsbegriffs, Bildung als die soziale Institution zur Reproduktion vorherrschender gesellschaftlicher Ordnung, eine Typologie von Bildung in traditionelle, bürgerliche, aristokratische und Arbeiterbildung, die Bildwelten der bürgerlichen Bildung, die Funktion des Klassenverbands für Gesellschaft und Staat, Bildung als Kühlsystem in einer heißen Gesellschaft, Bildung und die Integration in die Leistungsgesellschaft, die Kluft zwischen Schule und Hochschule, die Illusion der Chancengleichheit und der Leistungsgesellschaft etc.)). Ich will also in ein paar Einträgen zum Thema, der Sache und dem Begriff bzw. den Begriffen (und den diversen Aspekten der Sache) etwas auf den Grund gehen und näher kommen.
Wenn ich also tatsächlich ein wenig (auch) an einer Begriffsklärung arbeiten will, so ist damit nicht im mindesten auf eine einfache Definition abgezielt. Das funktioniert nämlich nicht! Überraschung. Das geht gar nicht. Und das Problem ist nicht mal so sehr, dass das sinnlos wäre, sondern vielmehr kontraproduktiv!
Es gibt/gäbe die Definitionen ja. Prototypisch vielleicht à la «Bildung ist die … humm humm humm … dings Menschwerdung … humm humm … Fähigkeit zu Verantwortung für das eigene Glück … humm … Prozess zu humm dings Autonomie des Individuums …»? Jawohl! Jetzt kennen wir uns alle aus und können loslegen. 😛 (Womit? Egal) Das funktioniert in etwa so gut wie: gib mir eine Definition für “Wirtschaft”. Knackig. Für “Politik”? Sehr schön! “Macht”? Das waren jetzt zwei Sätze, dass muss noch bündiger gehen. (Und wenn in einer Definition ein Begriff wie Wille oder Trieb vorkommt … humm .. jetzt wo wir in Fahrt sind: gib mir eine Definition für “Wille” und eine für “Trieb”).
«Die gesellschaftliche Funktion von Bildung»
Zurück zur Überschrift dieses ersten Eintrags von dem, was — unbescheiden — eine Serie werden soll. Hier ist die Allgemeine Schulordnung von 1774 angesprochen. Auch hier haben wir es mit einer “Definition” zu tun und im Umgang mit dieser kann ich vielleicht andeuten, wie ich mich dem Thema nähern will. Die Definition lautet sinngemäß,
Maria Theresia hat das staatliche Schulwesen eingeführt und mit der großen Schulreform samt Einführung der Unterrichtspflicht dem Volk die Bildung beziehungsweise mindestens den Zugang zu Bildung gebracht.
Das klingt wunderbar, lässt alles in einem schönen Licht (im dem der Chancengleichheit) erscheinen und uns stolz auf unsere Geschichte und auf die weise wie gütige Kaiserin sein.
Und das Ganze ist außerdem ein ordentlicher Humbug.
Für ein Schulwesen braucht es nämlich mehr als eine Verordnung. Das war früher so wie heute, für eine Umsetzung von Etwas bedarf es mehr als nur Willensbekundungen von PolitikerInnen. Im Falle eines Schulwesens wären das LehrerInnen samt Ausbildungssystemen für LehrerInnen, Posten, Bezahlung, Verwaltung. Das wären Schulen, d.h. Gebäude, ihre Errichtung, ihr Unterhalt, ihre Ausstattung und ihre Verwaltung. Da Liste müsste fortgesetzt werden und würde lang werden. Ich will sie mit dem — in den Augen vieler — wichtigstem Element eines Schulwesens sofort wieder beenden, vorauf ich hinaus will ist wohl bereits klar. Aber für die Einführung eines Schulwesens mit Unterrichtspflicht bedürfte es jedenfalls der SchülerInnen.
Man kann die Geburtsstunde eines staatlichen, die Gesamtheit der Bevölkerung erfassenden Schulwesens an dem Datum einer Verordnung festmachen. Man kann freilich ganz banal fragen und empirisch erforschen, wann eine Verordnung auch in die Praxis umgesetzt wurde, oder?
Und nun raten wir mal alle, wann war es in Österreich soweit, dass die Infrastruktur für ein Schulwesen flächendeckend geschaffen, wie heißt es so schön: Das nötige Geld in die Hand genommen wurde, und die Unterrichtspflicht auch österreichweit bis in die Alpentäler hinauf exekutiert wurde?