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Reiseziel Europa

Wir, die wir Fotos vom Meer und von Märschen durch Mazedonien auf unseren Handys haben

Fünf New­com­er erzählen vom Weg nach Europa, von der Bedeu­tung, die Smart­phones und Social Media für sie hat­ten, warum Viber, What­sApp oder tango.me wichtig sind und welche Rolle manche Apps jet­zt auf ihren Handys spie­len.

Erschienen in Stimme — Zeitschrift der Ini­tia­tive Min­der­heit­en 98, Früh­ling 2016
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☛ zu bestellen unter: abo@initiative.minderheiten.at

 

Wir haben unter­schiedlich lange Wege hin­ter uns. Wir sind über ver­schiedene und doch ähn­liche Fluchtrouten in Öster­re­ich angekom­men. Auf die Frage, woher wir kom­men, sagen wir kurz Afghanistan oder Syrien. Aus Traiskirchen haben wir es alle her­aus­geschafft, aber unsere Ver­fahren laufen und für diesen Artikel haben wir uns auf die Wir-Form geeinigt, ohne unsere Namen zu nen­nen.

Uns zu tre­f­fen und ken­nen­zuler­nen ist trotz­dem ein­fach und wir freuen uns. Seit dem Spät­som­mer 2015 – vier von uns fünf sind da ger­ade erst angekom­men – spie­len wir gemein­sam mit vie­len anderen unser­er Brüder und Schwest­ern The­ater: „Schutzbe­foh­lene per­for­men Jelineks Schutzbe­foh­lene“.

Über die The­ater-Work­shops in Traiskirchen vor dem Lager haben wir uns ken­nen­gel­ernt. Seit diesen Tagen im August 2015 nutzen wir eine geheime Face­book-Gruppe für die interne Kom­mu­nika­tion und zur Inte­gra­tion neuer Ensem­blemit­glieder. Der aktuelle Mit­glieder­stand zeigt neu­nund­sechzig Per­so­n­en, vier davon sind neu aus der let­zten Woche.

Alle Kontakte, die wir noch haben

Ohne die Plat­tform auf Face­book hät­ten sich manche von uns schon in den ersten Wochen und Monat­en ver­loren, als immer wieder ohne Vor­war­nung Ver­legun­gen in andere Flüchtling­sun­terkün­fte durchge­führt wur­den.

Die Tele­fon­num­mer ist weniger ver­lässlich als Social Media Plat­tfor­men. Ist das Handy weg, find­en wir ver­mis­ste Freund_innen kaum über Tele­fon­num­mern, die an neu gekaufte SIM-Karten gekop­pelt sind. Wir haben Kon­takt, weil wir auf Face­book, What­sApp und Viber verknüpft sind.

In der Face­book-Gruppe wer­den neben Probezeit­en und Tre­ff­punk­te für die Vorstel­lungstage natür­lich auch andere nüt­zliche Infos gepostet: zu Deutschkursen, über Apps zur Ori­en­tierung, kosten­lose Ange­bote. Irgend­wann stand da die Ein­ladung an Inter­essierte, gemein­sam einen Artikel für die STIMME zu entwer­fen, gepostet von einem unser­er Fre­unde von der Schweigen­den Mehrheit.

Solche Post­ings muss jemand über­set­zen, von Deutsch und Englisch auf Far­si und Ara­bisch. Als Reak­tion gepostete Kom­mentare brauchen wieder Übersetzer_innen, die Antworten oder Rück­fra­gen auf Englisch oder Deutsch ver­ständlich machen. Automa­tis­che Über­set­zung­spro­gramme helfen sel­ten, bei Ara­bisch scheit­ern die besten.

Smi­leys und Stick­er bilden dage­gen eine lin­gua fran­ca. Wir machen reich­lich Gebrauch von ihnen. So lässt sich nicht nur mit einem Lächeln Fre­undlichkeit aus­drück­en, son­dern auch eine fra­gende oder zus­tim­mende Geste, für die es keine Über­set­zung braucht.

Ja, etwas schreiben will ich gern. Wie wir was nutzen? Soll ich sel­ber schreiben und du über­set­zt oder schreiben wir gemein­sam? Und ich habe noch nicht genau ver­standen, was meinst du, was brauchen wir genau?

Was heißt Social Media? Ah! Ja, das ist wichtig

Die meis­ten von uns haben keinen “Social Media”-Begriff. Wir nutzen Face­book. Wir nutzen What­sApp. Täglich. Stündlich. Ja, auch YouTube. Was noch? Viber, Skype, tango.me. Wichtig ist Google Maps, ob auf den Fluchtrouten oder jet­zt in Wien. Aber das wichtig­ste ist das Handy. Ohne Handy geht gar nichts. Dazu ein stark­er Pow­er Pack, um den Akku mehrmals nach­laden zu kön­nen. Eine SIM-Karte. Ja, das ist alles wichtig.

Ok, we can talk about all that, let’s meet, write me on Face­book when.

Wir haben uns dann ein paar Mal in ver­schiede­nen Kon­stel­la­tio­nen getrof­fen. Fünf New­com­er und ein hier Geboren­er von der Schweigen­den Mehrheit. Manche von uns haben zur Vor­bere­itung ihre Über­legun­gen schon auf Deutsch struk­turi­ert und abgetippt, ein gutes Train­ing beim Sprache Ler­nen. Es gab ein langes Gespräch zu viert, das wir aufgenom­men haben, in Englisch, Ara­bisch und ein biss­chen Deutsch. Für Far­si sind wir zweimal zu dritt zusam­menge­sessen. Es gab Einzelge­spräche, wir haben Nachricht­en über Face­book aus­ge­tauscht und uns schlussendlich abge­sprochen, ohne alle Tele­fon­num­mern oder E‑Mail-Adressen voneinan­der zu haben.

19 Seit­en hat das Google Doc, in das alles einge­flossen ist. Zu viel um alles zu präsen­tieren. Fan­gen wir mit unseren unter­schiedlichen Aus­gangssi­t­u­a­tio­nen an.

Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling

Wir kom­men aus dem Euphrat-Tal im Osten Syriens und wir kom­men aus dem kur­dis­chem Gebi­et nordöstlich davon. Wir kom­men aus Damaskus. Wir kom­men aus ein­er Prov­inz im Zen­trum Afghanistans. Und wir kom­men aus ein­er Sied­lung etwas außer­halb Teherans, in der geflo­hene Afghan_innen harte Jobs machen müssen.

Wir sind mit 13 Jahren aufge­brochen, zuerst Rich­tung Kab­ul und dann in den Iran geflüchtet.

Wir haben uns aus Syrien in den Libanon und eine Zeit lang dort durchgeschla­gen, bis wir keine andere Option mehr als Europa hat­ten.

Wir sind, wie schon dutzende Male zuvor, zu Ver­wandten auf die türkische Seite der Gren­ze gefahren und dann unter­ge­taucht, weil die Türkei ger­ade begonnen hat­te, syrische Ver­triebene aufzu­greifen und festzunehmen.

Wir haben schon Jahre vor der endgülti­gen Reise für die Fam­i­lie Fluchtop­tio­nen von Ägypten aus erkun­det und sind schließlich über einen Stu­di­en­aufen­thalt in Nordzypern in die Türkei gelangt. Zu dem Zeit­punkt kon­nten syrische Flüchtlinge sich dort noch unbe­hel­ligt und legal fort­be­we­gen und wir haben einen Teil der Fam­i­lie aus dem vom IS kon­trol­lierten Gebi­et dort glück­lich getrof­fen.

Wir haben unter­schiedliche Bil­dungs­geschicht­en, Stu­di­en­ab­schlüsse eben­so wie nie eine Schulk­lasse von innen gese­hen und stattdessen in Fab­riken und Näh­stuben geschuftet, um das Geld für den Schlep­per von Afghanistan in den Iran zurück­zuzahlen und für die näch­ste Etappe nach Europa etwas anzus­paren. Wir hat­ten je nach unseren Hin­ter­grün­den dort, von wo wir aufge­brochen sind, ein freies Inter­net, ein zen­siertes oder gar keines.

Wir sind durch Städte gereist, in denen man die Schlep­per in Kaf­fee­häusern tre­f­fen kon­nte und durch andere, wo sie in einem Park unweit des Zen­trums zu find­en waren. Wir hat­ten Etap­pen, wo man die Verbindung über das Inter­net hergestellt hat.

Reiserouten nach Europa

Planung ist gut. Alles ist Kismet.

All diese Aspek­te – und noch ein paar mehr – bes­tim­men, welche Optio­nen wir haben um voranzukom­men, und ob wir mit Social Media bessere Karten haben oder nicht. Die Etappe, die wir ger­ade zu bewälti­gen haben, gibt die Optio­nen vor. Unsere Bil­dung und die Arbeitsmeth­o­d­en der Schlep­per geben die Optio­nen vor.

In Afghanistan sind viele von uns Analphabet_innen und im Iran gibt es ein streng zen­siertes Inter­net. In Syrien gibt es für jede anvisierte Stadt Face­book-Seit­en, auf denen hun­derte und tausende Men­schen auf Ara­bisch posten. Für Fluchtrouten aus Afghanistan und aus dem Iran gibt es das kaum.

Was ist das Nahe­liegende, wenn wir vor ein­er unbekan­nten Reise ste­hen? Wir kon­tak­tieren ver­traute Per­so­n­en, die die Reise bere­its gemacht haben. Wir fra­gen uns durch, bekom­men Kon­tak­te – auf Face­book, über What­sApp, Viber, Skype. Manche von uns ler­nen so Lesen und Schreiben. Oder wir bekom­men Tele­fon­num­mern.

So ist es sehr wahrschein­lich, dass Afghan_innen alle Etap­pen – bis zu denen inner­halb von Europa – über afghanis­che Fluchthil­fenet­zw­erke bewälti­gen. Kurd_innen ver­trauen kur­dis­chen Struk­turen, ara­bis­che Ver­triebene ara­bis­chen Net­zw­erken. Das bringt die Sprache mit sich, die famil­iären Kon­tak­te sowie die Fre­un­des- und Bekan­ntenkreise.

Noch mehr wer­den unsere Optio­nen aber von der aktuellen poli­tis­chen Lage bes­timmt. Die Regeln, die an der jew­eili­gen Gren­ze gel­ten, die Routen, die wir nehmen kön­nen, alles kann sich von Tag zu Tag ändern. Und nicht nur Poli­tik, Polizei und Mil­itär, auch die Topolo­gie, Net­z­ab­deck­ung oder die Ver­füg­barkeit von Steck­dosen bes­timmt mit.

Manch­mal gibt es Steck­dosen, aber es sind zu wenige. Manch­mal kostet ein­mal Handy-Aufladen zwei Euro (ein­mal Pow­er Pack-Laden vier Euro) und manch­mal – auf dem zehn­tägi­gen Marsch durch Maze­donien – haben wir an men­schen­leeren Hal­testellen immer Stromk­a­bel gesucht, freigelegt, von der Isolierung befre­it und mit eige­nen Dräht­en so mehrere unser­er Handys gle­ichzeit­ig aufge­laden.

Drei Arten von Online-Angeboten via Facebook & Co

Bei der Recherche im World Wide Web ist Face­book tat­säch­lich die wichtig­ste Plat­tform. Für jede Etappe jed­er Fluchtroute gibt es Seit­en und Grup­pen in mehreren Sprachen. Auf Ara­bisch find­en wir mehr als auf Far­si. In Syrien sind Face­book-Seit­en pro Stadt und Prov­inz die wichtig­sten Anlauf­stellen – nicht nur für Infor­ma­tio­nen zu Fluchtrouten, son­dern auch, um die Kriegslage einzuschätzen. Alle nutzen Face­book: die Schlep­per, die Islamis­ten, die zivilge­sellschaftlich engagierten Fluchthelfer_innen und wir.

Wir kön­nen daher drei Arten von Seit­en auf Face­book unter­schei­den:

  • Es gibt solche, auf denen die Schlep­per ihre Ange­bote und Leis­tun­gen bewer­ben.
  • Es gibt Seit­en, die von Aktivist_innen betrieben wer­den, die ein­fach helfen.
  • Und es gibt als dritte Kat­e­gorie die selb­stor­gan­isierten Grup­pen, in denen alle jene, die ger­ade unter­wegs sind, Infor­ma­tio­nen aus­tauschen, sich absprechen und gemachte Erfahrun­gen weit­ergeben. Welch­er Schlep­per ist gut, welche Route ist gefährlich, wo kann man Pässe kaufen, wo kön­nen wir sich­er über­nacht­en, was macht Ungarn ger­ade, wie sieht es in Izmir oder Bodrum aus usw.

Face­book ist ein Mark­t­platz der Schlep­per. Sie schreiben, „Unser Schiff ist sich­er, groß und kom­fort­a­bel“, „Wir garantieren, dass max­i­mal 20 Per­so­n­en in ein Boot kom­men“, „Wir fahren mit einem Reise­bus mit Wifi direkt von X nach Y und dazwis­chen muss nur max­i­mal eine Stunde zu Fuß gegan­gen wer­den.“ Die Wer­bung stimmt natür­lich nicht. Die Schiffe sind alte Boote. Gum­mi­boote müssen wir selb­st auf­blasen und wer­den mit 40 Per­so­n­en vollgestopft. Busse sind in Wirk­lichkeit Liefer­wa­gen. Fußmärsche dauern acht Stun­den oder länger als einen Tag.

Aber wir brauchen die Schlep­per. Wir wis­sen natür­lich, dass wir ihnen nicht ver­trauen kön­nen, also ver­suchen wir von den­jeni­gen, die vor uns auf den Fluchtrouten waren, Empfehlun­gen zu bekom­men, Tele­fon­num­mern, Namen, Adressen, Accounts auf Skype, Viber, tango.me oder What­sApp. Manche Schlep­per sind gut, manche sind gefährlich.

Die zweite Art von Face­book-Seit­en kann man sich so vorstellen: Engagierte Men­schen organ­isieren gemein­sam Hil­fe. Das sind Per­so­n­en aus Syrien, Palästi­na, Sau­di-Ara­bi­en, aus der Türkei und Griechen­land und solche, denen die Flucht nach Öster­re­ich, Deutsch­land, Schwe­den oder in die Nieder­lande schon geglückt ist. Sie stellen Notrufnum­mern zur Ver­fü­gung.

Wenn wir ohne Motor auf dem Meer treiben, organ­isieren diese Helfer_innen Ret­tung. Kurz vor dem Able­gen von der türkischen Ägäisküste teilen wir ihnen Abfahrsort und ‑zeit, das Boot, die Anzahl der Per­so­n­en und die eingeschla­gene Rich­tung mit. Sie über­prüfen dann, ob wir ankom­men und alarmieren die Polizei, wenn etwas nicht stimmt oder wenn wir ver­schwinden.

Schlep­per ver­suchen laufend mit Fehlin­for­ma­tio­nen die Polizei und die Küstenwachen zu täuschen. Aber den Helfer_innen ver­traut die Polizei. Ihre Infor­ma­tio­nen stim­men und sie kön­nen außer­dem auf Türkisch oder Griechisch mit der Polizei tele­fonieren. Die Polizist_innen kön­nen meis­tens kein Englisch, erst recht nicht Ara­bisch oder Far­si.

Eine Empfehlung: die Doku #myescape mit Handy-Videos & ‑Fotos von den Reisen.
https://www.youtube.com/watch?v=bB3WdudI0L0

Unsere Informationsbörsen und ihre Grenzen

Bevor wir aus dem Libanon aufge­brochen sind, hat ein­er unser­er Brüder Wochen und Monate lang sechzehn Face­book-Seit­en ver­fol­gt. Sein Lap­top war ein Kon­trol­lzen­trum. Er hat alles gesam­melt: Kon­tak­te, Empfehlun­gen und War­nun­gen, Namen von Hotels, Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen und wichti­gen Plätzen, Karten. Er hat selb­st auf den Seit­en kom­men­tiert, Fra­gen gestellt und dann auf What­sApp wei­t­er­disku­tiert.

All das sind die selb­stor­gan­isierten Foren, auf denen unglaublich viele Men­schen ständig Infor­ma­tio­nen aus­tauschen, sich absprechen, Tre­ff­punk­te aus­machen, Tipps geben oder War­nun­gen posten. So wird stündlich aktu­al­isiert, wie die Lage etwa an der türkischen Küste aussieht, in Athen, an der griechisch-maze­donis­chen oder an der ser­bisch-ungarischen Gren­ze.

Wir hat­ten uns über eine dieser vie­len Seit­en einen Tre­ff­punkt mit anderen Reisenden aus­gemacht. Es gab einen Tag und Ort, um in ein­er größeren Gruppe die näch­ste Etappe über den Balkan anzuge­hen. Es ist nicht gut, alleine oder in Kle­in­grup­pen die Balka­n­route in Angriff zu nehmen. Am 15. August hät­ten wir in Athen sein müssen. Wir haben es knapp nicht geschafft, weil wir zu lange auf Samos fest­ge­sessen sind. Aber das wäre so ein typ­is­ch­er Fall gewe­sen, wo Flüchtlinge sich über Face­book selb­st organ­isieren, um sicher­er unter­wegs zu sein.

Wenn man am Ende ein­er Zwis­ch­ene­tappe irgend­wo ein­trifft, sagen wir von der Tages­reise zwis­chen Athen und Thes­sa­loni­ki oder dem nächtlichen Marsch über die ser­bis­che Gren­ze nach Szeged, dann ist das erste, die aktuellen Infos für die näch­ste Etappe auf der richti­gen Face­book-Seite nachzule­sen. Das unter­lassen wir wahrschein­lich nur zwis­chen Bel­grad und Ungarn, weil uns die Schlep­per ein­schär­fen, die Handys aus­geschal­ten zu hal­ten. Ange­blich ver­wen­den die Ungarn Handy­or­tung um uns abz­u­fan­gen.

Auf Face­book schauen wir nach: Ist die näch­ste Gren­ze noch offen? Was ist in den let­zten vierundzwanzig Stun­den passiert? Welche Regeln gel­ten ger­ade?

Es kann gut sein, dass ein Plan nicht mehr rel­e­vant ist, den wir vorher hat­ten. Kon­tak­t­per­so­n­en sind ver­schwun­den, vielle­icht sind sie festgenom­men wor­den, mussten unter­tauchen oder sie haben ihre Tre­ff­punk­te ändern müssen. Die Regeln für Routen haben sich geän­dert. Die Hotels, in denen wir über­nacht­en woll­ten, sind über­füllt.

In einem Fall sind wir nach der maze­donisch-ser­bis­chen Gren­ze mehr als einen Tag um Papiere ange­s­tanden, mit denen wir legal Ser­bi­en durch­queren hät­ten kön­nen – ohne Erfolg. Wir haben dann etwas mehr für den Bus nach Bel­grad gezahlt, weil wir ille­gal gefahren sind. Es hätte noch lange gedauert, Papiere zu bekom­men.

Ohne Papiere kon­nten wir in Bel­grad nicht in eines der Hotels gehen, das emp­fohlen wurde. Wir mussten uns neu informieren, eine Nacht auf der Straße schlafen, dann ein Hotel find­en, in das wir ohne Papiere schlüpfen kon­nten, um ein­mal etwas zur Ruhe zu kom­men. Und wir mussten andere Schlep­perkon­tak­te recher­chieren, weil die über Social Media von früher Reisenden Emp­fohle­nen unter­ge­taucht waren.

Schlepper. Routen. Fluchthilfe

Im Hochsom­mer 2015 waren immer mehr Men­schen auf den Routen in der östlichen Ägäis und am Balkan unter­wegs. Die Regeln änderten sich. Viele von uns kon­nten manche Etap­pen ohne Schlep­per unternehmen. Zwei von uns sind im August unter­wegs gewe­sen, als am Balkan, in Öster­re­ich und Deutsch­land viele Wege geöffnet oder zumin­d­est vere­in­facht wur­den. Nur ein paar Wochen vorher mussten wir durch Maze­donien noch marschieren und Flüchtling­shil­fe war nicht nur ver­boten, son­dern wurde mit Strafen geah­n­det. Dann gin­gen Züge. Später ging nichts mehr.

In Ungarn war es immer furcht­bar und dann war diese Route ganz geschlossen. Wir sind knapp vor der Schließung der ungarischen Gren­ze noch durchgekom­men, als sich viele ohne Schlep­per auf den Weg gemacht hat­ten.

Ohne Schlep­per unter­wegs zu sein kostet jedoch auch viel. Es gibt andere Ungewis­sheit­en und andere Stra­pazen. Es kann schlim­mer aus­ge­hen als mit Schlep­pern. Den­noch gilt: Wenn ger­ade mehr geht, wenn Staat­en Züge und Busse organ­isieren, um uns schnell weit­erzube­fördern, brauchen wir die Schlep­per weniger.

Je mehr Fluchtwege geschlossen wer­den, desto abhängiger wer­den wir von Schlep­pern, desto gefährlich­er wird es für die Schlep­per und desto gefährlich­er wer­den die Schlep­per für uns.

Wir sind vor und wir sind nach dem Pakt zwis­chen der EU und Erdo­gan auf der Reise gewe­sen, als nun auch die Durch­querung der Türkei mit einem Jahr Gefäng­nis bestraft wor­den wäre, wenn sie uns aufge­grif­f­en hät­ten. In einem Fall waren wir deut­lich früher unter­wegs, als die Über­querung des Evros bzw. der Mar­it­sa noch eine real­is­tis­chere und übliche Route war. Wir sprechen vom Gren­zfluss zwis­chen der Türkei und Griechen­land, in dem genau­so wie im Meer viele Men­schen ertrunk­en sind.

Wir haben nie Schwim­men gel­ernt und sind beim ersten Ver­such damals geken­tert. Das passierte gle­ich nach dem Able­gen, weil ein paar Pas­sagiere in Panik geri­eten. Wir kon­nten uns an einem Bau­mast aus dem Wass­er ziehen. Ein Flüchtling hat dabei fün­f­tausend Dol­lar ver­loren. Von mehreren anderen wis­sen wir nicht, was mit ihnen passiert ist. Wir haben nur unser Handy ver­loren. Beim zweit­en Ver­such ist uns die Über­querung des Flusses gelun­gen.

Den ganzen Weg versteckt, aus der Heimat ferngesteuert

Nach dem Pakt mit Erdo­gan unter­wegs zu sein hieß, den gesamten Weg von Kur­dis­tan bis nach Öster­re­ich ver­steckt zu reisen. Die Organ­i­sa­tion aller unser­er Reisen ist unter­schiedlich ver­laufen, diese hat mit ein­er Kon­tak­t­per­son funk­tion­iert, die wir nur tele­fonisch kon­tak­tiert haben. Hier haben wir es mit einem anderen Typus von Fluchthelfern oder Schlep­pern zu tun. Das sind Leute, die wir nie tre­f­fen und mit denen wir nur über Viber, What­sApp oder Tele­fon kom­mu­nizieren.

Sie dirigieren uns über den gesamten Weg per pri­vat­en Kom­mu­nika­tion­skanal, organ­isieren alle Etap­pen, sagen uns, wo wir abge­holt wer­den, wohin wir marschieren müssen, wo wir uns ver­steck­en müssen und wann wir wieder aus Ver­steck­en her­auskom­men kön­nen. Sie über­set­zen uns aus der Dis­tanz, was die von ihnen organ­isierten lokalen Schlep­per sagen und was wir ihnen sagen wollen.

Zu zweit haben wir von Al Hasakah bis Wien pro Etappe neue Anweisun­gen über diesen Weg bekom­men, via Edirne, einen Fuss­marsch über die bul­gar­ische Gren­ze, dann Sofia und Bel­grad – wie zwei Pakete. In Öster­re­ich haben wir unsere Ver­wandten zu Hause angerufen und das aus­gemachte Hon­o­rar von rund fün­f­tausend Euro pro Per­son wurde an den Kon­takt in Al Hasakah aus­gezahlt. Auf dem ganzen Weg gab es kein Inter­net, alles ging ohne Social Media.

Aufbruch aus dem Iran

Wieder anders ist es in den Vorstädten von Isfa­han und Teheran, von wo wir uns als afghanis­che oder pak­istanis­che Flüchtlinge auf­machen. Zwis­chen unser­er Flucht aus Afghanistan und dem neuer­lichen Auf­bruch aus dem Iran liegen oft Jahre, die wir als Ille­gale in Arbeitssied­lun­gen arbeit­en. Hier wis­sen alle, wie und wo wir Schlep­per find­en.

Wir haben auch alle Kon­tak­te in Europa, die uns mit ihren Schlep­pern verbinden, wenn sie gut waren. Östlich von der Lin­ie Türkei, Syrien, Irak sind es die Bekan­nten und Ver­wandten in Europa oder Übersee, die unsere “Social Media”-Kontakte darstellen. Die Kom­mu­nika­tion läuft halt tra­di­tionell über das Tele­fon, nur wenn möglich über tango.me und Viber, um Geld zu sparen: Erzäh­lun­gen, was uns erwartet, Namen von Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen, Dör­fern, Straßen und Städten.

Ohne Inter­net und Social Media ver­han­deln wir vor Ort mit Schlep­pern, ver­suchen uns ein Bild von ihnen zu machen, sie einzuschätzen. Wir brauchen sie. Wir wären son­st nie durch die Wüste zwis­chen Nim­ruz und Bam gekom­men. Und wie sollen wir von Oru­miyeh über das Gebirge nach Van kom­men. In bei­den Fällen müssen wir nicht nur an Gren­z­sol­dat­en vor­bei, son­dern auch an den Ban­diten, die uns für Lösegeld gefan­gen nehmen und ver­schwinden lassen, wenn es nie­man­den gibt, der für uns etwas Geld trans­ferieren kann.

Auf der türkischen Seite des Gren­zge­birges zum Iran haben wir nun Inter­net, vielle­icht aber noch keine Smart­phones, keine Ahnung von Face­book oder nicht die aus­re­ichen­den Sprachken­nt­nisse, um ohne jene Schlep­per­or­gan­i­sa­tion auszukom­men, mit der wir bis hier­her in den Schat­ten des Ararat gekom­men sind.

Geldtransfers und Safe Offices

Aus­gaben unter­wegs sind Tick­ets für Züge, Busse, Flugzeug und Fähren. Wir zahlen Zim­mer in Hotels oder Absteigen. Wir zahlen die Schlep­per, die Plätze in Booten, auf der Lade­fläche von Pick-ups, in Autos, Bussen oder Liefer­wa­gen. Wir zahlen neue SIM-Karten, manch­mal neue Handys und Pow­er Packs. Aber wir wollen nie zu viel Geld bei uns tra­gen.

Schlep­per zahlt man bess­er nicht im Voraus. Wie also funk­tion­iert das? Wieder braucht es das Handy und entwed­er „Safe Offices“ oder Ver­traute, die deren Auf­gabe übernehmen. West­ern Union gibt es in Afghanistan, dem Iran oder Syrien nicht. Wir haben unser Geld bei der Fam­i­lie, Ver­wandten, unseren Fre­un­den wie bei Banken deponiert. Per Tele­fon melden wir uns, wenn wir etwas brauchen.

Den Geld­trans­fer übernehmen Organ­i­sa­tio­nen, die wir nicht durch­schauen kön­nen. Es wird nicht wie in Europa dig­i­tal über­wiesen son­dern in einem Büro irgend­wo im Iran, Syrien oder der Türkei etwas bar abgegeben und in einem anderen Büro an einem anderen Ort in der Türkei, Griechen­land oder Ser­bi­en bekom­men wir etwas aus­bezahlt.

Die Organ­i­sa­tion hat ihre eige­nen Wege, im Hin­ter­grund die Kon­ten abzu­gle­ichen. Büros sind in Seit­en­straßen. Es sind ein­fache kleine Geschäfte, von denen es viele gibt. Alle wis­sen, wo sie zu find­en sind. Es gibt afghanis­che Organ­i­sa­tio­nen, ara­bis­che, türkische usw.

Die Bezahlung von Schlep­pern geht meis­tens über diese Büros, die „Safe Offices“ genan­nt wer­den. Es gibt sie in den gle­ichen Seit­en­gassen Bodrums, Izmirs oder Athens, in denen wir die Schlep­per find­en und ihre angemieteten Quartiere find­en, in denen wir bis zum Auf­bruchssig­nal ver­sam­melt wer­den.

Natür­lich ver­suchen wir, unser Geld für die Über­fahrt in einem Safe Office zu hin­ter­legen, das wahrschein­lich nicht von der gle­ichen Organ­i­sa­tion betrieben wird, der unsere Schlep­per ange­hören. Nach Möglichkeit gehen wir nicht alleine hin, weil wir bere­its zehn­tausend Euro in bar bei uns tra­gen, der Preis für mehrere Per­so­n­en und eine Über­fahrt in einem voll­ge­füll­tem Schlauch­boot. Zwis­chen der Türkei und Griechen­land waren das im Som­mer 2015 tausend­fünfhun­dert Dol­lar pro Per­son.

Unsere Vertreibung, ihre Geschäftsgrundlage

Um nur ein­tausend Dol­lar kön­nte man ein ganzes Boot neu kaufen. Aber natür­lich wird Flüchtlin­gen keines verkauft. Selb­st wenn, wür­den die Schlep­per­or­gan­i­sa­tio­nen es sofort zer­stören und uns zur War­nung zusam­men­schla­gen. Wir müssen für die Über­fahrt bezahlen. Die, die kein Geld haben, dür­fen manch­mal trotz­dem mit, wenn sie den Boot­skapitän übernehmen und das Gum­mi­boot auf Kurs Rich­tung griechis­ch­er Insel hal­ten.

Im Safe Office nimmt ein zehn­jähriger Junge das Geld für unsere Gruppe von sechzehn Per­so­n­en ent­ge­gen. Er zählt tausende Dol­lar unter Auf­sicht. Einen Com­put­er gibt es nicht. Auf einem ein­fachen Zettel wird ein Code gekritzelt, ein beliebiger Satz, den wir uns aus­suchen. Wenn wir sich­er auf Kos, Samos oder Les­bos angekom­men sind, geben wir mit einem Anruf im Safe Office und dem Auf­sagen des auf den Zettel gekritzel­ten Satzes das Geld an die Schlep­per frei. Bei anderen Etap­pen in der Türkei, Ser­bi­en, Bul­gar­ien und Ungarn läuft es ähn­lich.

Haben wir genug Geld, kön­nten wir nach diesem Sys­tem sog­ar mit gefälscht­en Pässen direkt von Athen aus nach Ams­ter­dam, Berlin oder Stock­holm fliegen. Ein Fre­und von uns hat es so geschafft, beim sieben­ten Ver­such mit sieben ver­schiede­nen gefälscht­en Pässen sieben ver­schieden­er Nation­al­itäten. Die Kosten sind da natür­lich hor­rend. Von uns kon­nte sich das nie­mand leis­ten.

Im gün­stigeren Fall liegt das Geld nicht in einem der undurch­sichti­gen Safe Offices son­dern bei Ver­wandten. Im schlechteren Fall geben wir Schlep­pern das Geld direkt im Voraus, etwa weil der Auf­bruch uner­wartet plöt­zlich ist und wir uns denken, dass wir vom Geld sowieso nichts hät­ten, wenn es in unseren Taschen am Grund des Meeres steckt.

Hey Bruder, was machst du? Kein Handy! Bitte, kein Handy. Vorzeigeflüchtlinge! Kein Handy.

In Öster­re­ich sind Smart­phone, Inter­net und Social Media noch mehr im Ein­satz als auf unseren Reisen. Zum einen wollen wir jet­zt mit unseren Fam­i­lien und Freund_innen reden. Manche von uns haben das unter­wegs in jed­er möglichen Sit­u­a­tion gemacht, andere haben das unter­lassen und nur nach den gefährlich­sten Etap­pen eine Nachricht geschickt.

Jet­zt sind wir in Sicher­heit und haben eine große Ungewis­sheit weniger. Außer­dem haben wir viel Zeit. Manche von uns verzweifeln, weil wir nichts zu tun haben und in vie­len Sit­u­a­tio­nen nichts tun dür­fen. Dann sind Smart­phones, YouTube-Videos, Spiele wichtig, um nicht ver­rückt zu wer­den. Akku­ladun­gen sind kein Prob­lem mehr und das Handy ist manch­mal die einzige Ablenkung von ein­er tris­ten Umge­bung und schlim­men Erin­nerun­gen.

Unter­wegs haben wir oft nur ein Handy für eine ganze Gruppe aufge­dreht gehabt und das näch­ste, wenn wieder eines leer war. Wir waren von Handys abhängig, um uns nicht zu verir­ren und um Kon­tak­te anrufen zu kön­nen. Jet­zt müssen wir uns die Handys nicht mehr teilen. Jet­zt muss unser eigenes unsere Unter­hal­tung übernehmen.

Manche von uns ver­fol­gen weit­er­hin die Face­book-Seit­en, die so etwas wie selb­stor­gan­isierte Medi­en­por­tale über die Lage in Syrien sind. Wir kom­men nicht los, obwohl die Nachricht­en grausam sind. Wir sehen YouTube-Videos vom Phos­pho­r­re­gen und wachen in der Nacht auf, weil wir wieder das Feuer im Traum auf uns her­ab­fall­en sehen. Immer öfter nehmen wir uns vor, nichts mehr über zu Hause zu lesen. Aber noch posten wir auf Face­book sel­ber aktuelle Berichte über den Krieg in Syrien.

Andere von uns haben schon lange zugemacht. Wir ver­wen­den Social Media nur mehr für die tagtäglichen Kon­tak­te hier, zur Kom­mu­nika­tion mit Freund_innen und natür­lich für das Kon­takt hal­ten mit unseren Brüdern und Schwest­ern, die es über Europa verteilt hat.

Auf dem Smart­phone sind jet­zt außer­dem mehrere Apps instal­liert, mit denen wir Deutsch und Englisch ler­nen, Sprach­pro­gramme und Apps, die uns mit anderen Kon­ver­sa­tion üben lassen. Wir hören Musik, schauen Filme, manch­mal aus unser­er Heimat, manch­mal von hier, um die Kul­tur ken­nen zu ler­nen und bess­er zu ver­ste­hen. Es gibt Reise­führer-Apps und Apps für Museen, Über­set­zung­spro­gramme und Lexi­ka.

Als wir am Helden­platz in der Men­schen­menge ges­tanden sind, waren unsere Smart­phones Lichter im Lichter­meer. Im The­ater­stück haben wir die Handys in ein­er Szene vorher schon ver­wen­det, um mit Licht­punk­ten in der Hand zu „Wien nur du allein“ zu tanzen.

Die Szene ist in den Work­shops auch daraus ent­standen, weil wir in Pausen sofort Musik mit einem Smart­phone gemacht und getanzt haben. Später hat sich die Szene bei Proben weit­er­en­twick­elt. Jemand aus unserem Ensem­ble hat im Scherz gerufen, „Hey, kein Handy, wir sind Vorzeige­flüchtlinge“.

Es ist komisch, wenn uns zum Vor­wurf gemacht wird, Handys zu haben. Ohne kom­men wir auf der Flucht nicht weit­er. Wir haben Schlep­pern von Syrien bis Öster­re­ich in etwa fün­f­tausend Euro zahlen müssen, vom Iran nach Öster­re­ich zehn- bis fün­fzehn­tausend. Was kostet dage­gen schon ein Smart­phone?

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Am Platz hat himmlischer Friede zu herrschen

Bilder von kommenden Aufständen

Ein neues Gespenst geht um in Europa, aber es ist nicht das des Kom­mu­nis­mus. Es hat bis­lang keinen Namen. Es ist noch nicht ein­mal ein ‑ismus, aber dafür existieren zahlre­iche Bilder, die als Erscheinen und Umge­hen des Gespen­sts inter­pretiert wer­den. Alleine 2011 sind unzäh­lige Fotografien und Video­bilder in Print‑, audio­vi­suellen und elek­tro­n­is­chen Medi­en hinzugekom­men. Die Bilder zeigen von protestieren­den Men­schen beset­zte Plätze in europäis­chen Metropolen. Dieser Fülle an Bildern (pic­tures) ste­ht ent­ge­gen, dass das Bild (image), das wir uns vom Gespenst machen, noch etwas schemen­haftes, flüchtiges hat.

Im Vor­feld des 15. Mai 2011 ent­standen, ver­bre­it­et sich dieses knappe Man­i­fest schnell via Inter­net und strahlt bis heute weit über die Gren­zen Spaniens hin­aus aus. Auf democraciarealya.es ist es in mehreren Sprachen nachzule­sen.

Es gibt Man­i­feste, die disku­tiert wer­den. Neben den Tex­ten des Unsicht­baren Komi­tees: Der kom­mende Auf­s­tand, Ham­burg 2010 [frz. Orig. 2007] und Stéphane Hes­sels: «Empört Euch!», Berlin 2011 [frz. Orig. 2010] sei hier auf das «Man­i­fiesto — ¡Democ­ra­cia Real YA!» der spanis­chen Indig­na­dos-Bewe­gung ver­wiesen, die ihren Namen von Hes­sels Aufruf ableit­et.
Was es nicht gibt, sind außer Stre­it ste­hende Vor­denkerIn­nen, die die Erschei­n­un­gen des neuen Gespen­sts so schlüs­sig zu erk­lären im Stande wären, dass wir von einem klaren Bild sein­er Gestalt, Entste­hung, Reich­weite, Macht und Lebens­dauer aus­ge­hen kön­nten.

Aus der Per­spek­tive gegen­wär­tiger Zeit­geschichte ist nicht auszuschließen, dass das, was heute als Gespenst erscheint, ex post nur als Phan­tas­ma bew­ertet wird. Davon wäre zu sprechen, wenn die aktuell im paneu­ropäis­chen kom­mu­nika­tiv­en Gedächt­nis ver­ankerten Begriffe «Syn­tag­ma», «S21», «indig­na­dos», «occu­py» etc. ihre zen­trale Posi­tion ver­lieren wür­den, ohne nach­haltig in das kul­turelle Gedächt­nis Europas eingear­beit­et zu wer­den. ((Für die Unter­schei­dung zwis­chen kom­mu­nika­tivem und kul­turellem Gedächt­nis siehe Jan Ass­mann: «Das kul­turelle Gedächt­nis. Schrift, Erin­nerung und poli­tis­che Iden­tität in frühen Hochkul­turen», München 1992)) In der his­torischen Bew­er­tung hät­ten wir es dann mit der Verdich­tung eines all­ge­meineren Phänomens zu tun gehabt, das mit Judith But­ler nüchtern beschreib­bar wäre als:

In the last months there have been, time and again, mass demon­stra­tions on the street, in the square, and though these are very often moti­vat­ed by dif­fer­ent polit­i­cal pur­pos­es, some­thing sim­i­lar hap­pens: bod­ies con­gre­gate, they move and speak togeth­er, and they lay claim to a cer­tain space as pub­lic space. Now, it would be eas­i­er to say that these demon­stra­tions or, indeed, these move­ments, are char­ac­ter­ized by bod­ies that come togeth­er to make a claim in pub­lic space, but that for­mu­la­tion pre­sumes that pub­lic space is giv­en, that it is already pub­lic, and rec­og­nized as such.“ ((Judith But­ler: Bod­ies in Alliance and the Pol­i­tics of the Street. In: Trans­ver­sal / EIPCP mul­ti­lin­gual web­jour­nal, 09, 2011))

Was ist es, das dieses Zusam­menkom­men von Kör­pern in der Wahrnehmung viel­er zum Umge­hen oder dem Phan­tas­ma eines neuen Gespen­sts macht? Wie ver­hal­ten sich die Kör­p­er, wie nutzen sie Raum, dass von diesem Ver­hal­ten auf die Emer­genz ein­er “neuen Protest­be­we­gung” geschlossen wird?

Für Prog­nosen und Bew­er­tun­gen der länger­fristi­gen und über­re­gionalen Bedeu­tung ist es zu früh, erst recht für die Einord­nung der Wirkung der Proteste in europäis­chen Innen­städten. Gegen­wär­tig ist festzuhal­ten: Sie wer­den als neuar­tig wahrgenom­men. Die lokalen Protest­be­we­gun­gen sind nicht als isolierte Phänomene einzel­ner Staat­en und Städte erk­lär­bar.

Zu Prak­tiken der Bewe­gun­gen zählen Block­aden und Beset­zun­gen von Verkauf­s­räu­men jen­er Konz­erne und Banken, die von der Regierung weitre­ichende Steuer­erle­ichterun­gen oder Hil­f­s­pakete bekom­men haben.

Nicht nur zen­trale urbane Plätze, son­dern immer neue Räume wer­den zu Schau­plätzen von Beset­zun­gen, die tem­porär alter­na­tive Nutzun­gen erzwin­gen und für die Dauer der Inbe­sitz­nahme zu Räu­men offen­er und öffentlich­er Ver­samm­lun­gen wer­den. Beispiel­haft dafür sind die Beset­zun­gen von Bank­fil­ialien durch die UK-Uncut-Bewe­gung. «UK Uncut» ste­ht für die seit dem Herb­st 2010 in Großbri­tan­nien aktive Protest­be­we­gung gegen die Steuer­erle­ichterun­gen für Reiche und Konz­erne sowie gegen Kürzun­gen des Staates im Sozial­bere­ich.

besetzte Bankfiliale in Cambridge am 26.2.2011
Abb. 1: Im Früh­jahr 2011 kommt es in ganz Großbri­tan­nien zu spon­ta­nen tem­porären Beset­zun­gen vor­wiegend von Bank­fil­ialien. Verkauf­s­räume wer­den für die Dauer der Beset­zun­gen, die via Flash­mobs ini­ti­iert wer­den, zu öffentlich zugänglichen Bib­lio­theken, Kindergärten und Schulk­lassen.

In einem glob­alen Lern­prozess wer­den Protest­prax­en, Tech­niken, Analy­sen, Ide­olo­gien und Bild­sprachen entwick­elt und weit­er gegeben. Inter­net, Social-Media-Plat­tfor­men, Smart­phones und neue For­men der Selb­stor­gan­i­sa­tion spie­len eine gewichtige Rolle neben bekan­nten Fak­toren wie sozialer Ungle­ich­heit, ökonomis­chen Bedin­gun­gen, poli­tis­ch­er Repres­sion.

Dem gegenüber ste­ht die Aufrüs­tung der staatlichen und kom­mu­nalen Sicher­heits- und Überwachungsap­pa­rate, die im gle­icher­maßen glob­alen Lern­prozess Know-how im Umgang mit den neuen Protest­be­we­gun­gen sam­meln. All diese Fak­toren wer­den in den Fol­ge­jahren des ereignis­re­ichen Jahres 2011 rel­e­vant bleiben oder rel­e­van­ter wer­den. Als Indika­toren für die Wahrschein­lichkeit kom­mender Auf­stände sprechen sie für die Prog­nose, dass zen­trale Plätze — und immer wieder neue Räume — auch weit­er­hin Schau­plätze neuer Proteste in west­lichen Metropolen sein wer­den.

Anonymous bei Stop the Slaughter in Palestine Demo
Abb 2: Das Foto stammt von ein­er «Stop the Slaugh­ter in Pales­tine»-Demo am 10. Jän­ner 2009 am Rande des Lon­don­er Hyde Park und hat organ­isatorisch oder poli­tisch mit „Anony­mous“ nichts zu tun. Die Form des Bildes mit Rah­men und Beschrif­tung ist die des “Moti­va­tion­als” und es han­delt sich um eine für diesen Text pro­duzierte Nach­bil­dung eines “Moti­va­tion­als” unter Ver­wen­dung eines Auss­chnitts des Bilds «Stop the Slaugh­ter in Pales­tine Demo- Anony­mous» von Loz Pycock (aufgenom­men am 10.1.2009 in Lon­don). Moti­va­tion­al-Poster wer­den online via Gen­er­a­tor-Web­sites erstellt und auf Image­boards wie 4chan, via Social Net­works Plat­tfor­men und Blogs ver­bre­it­et. Sie ste­hen für die virale Ver­bre­itung von Bildern nach dem Modus der Social Media. Sie sind Aus­druck ein­er demokratis­chen Aneig­nung der Bilder und ihrer Kon­tex­tu­al­isierung.

Die Zeichnung des Gespensts der wütenden BürgerInnen

Neben den Bildern von Protestieren­den und beset­zten Räu­men dominiert ein Bild die Wahrnehmung der neuen Protest­be­we­gun­gen. Feuil­leton und Medi­en im deutschsprachi­gen Raum geben dem Gespenst mit berech­nen­der Vor­liebe den Namen Wut­bürg­er. In der Regel im Sin­gu­lar, männlich. Der Erfind­er dieses Images, der Jour­nal­ist Dirk Kur­b­juweit, leit­et 2010 seinen gle­ich­nami­gen Essay im Nachricht­en­magazin Spiegel mit dem Satz ein:

Eine neue Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft: Das ist der Wut­bürg­er.“ ((Dirk Kur­b­juweit: Der Wut­bürg­er. In: Der Spiegel, 2010, Nr. 41, S. 26))

Die Schmäh­schrift zeich­net einen alten bürg­er­lichen, mit «Hass» erfüll­ten, von «nack­ter Wut getriebe­nen» Mann, der sich «laut brül­lend» zu Wort meldet und «momen­tan alles dominiert». Orte, an denen dieser Wut­bürg­er auftritt, um «momen­tan alles zu dominieren», nen­nt der Essay drei und diese nur beiläu­fig: Demon­stra­tio­nen am Bauza­un in Stuttgart, die Münch­n­er Rei­thalle anlässlich ein­er Ver­anstal­tung mit Thi­lo Sar­razin und das Inter­net. Die Menge der Men­schen, die Kör­p­er im öffentlichen Raum, ihre Verteilung, ihr Zusam­men­spiel und ihre Bewe­gun­gen kom­men in der Beschrei­bung des neuen Phänomens nicht vor.

Abb. 3: Polizeieinsatz am Schwarze Donnerstag in Stuttgart
Abb. 3: Polizeiein­satz am «Schwarze Don­ner­stag» mit Pfef­fer­spray. Das tak­tis­che Medi­um fluegel.tv doku­men­tiert die Vorgänge per Live-Streams und mit der Samm­lung von online zur Ver­fü­gung gestell­ten Fotos.

In den Wochen vor dem Erscheinen des Essays am 11. Okto­ber 2010 sind es regelmäßig Zehn­tausende, die in der rund 600.000 Ein­wohner­In­nen zäh­len­den Stadt Stuttgart Straßen und Plätze für sich ein­nehmen. Die Vor­fälle des 30. Sep­tem­ber 2010 im Stuttgarter Schloß­garten gehen als «Schwarz­er Don­ner­stag» in die bun­des­deutsche Geschichte ein und machen Stuttgart zum Medi­en­großereig­nis. Das Foto eines durch­nässten älteren Her­ren, der von zwei anderen Män­nern gestützt wird, während Blut aus bei­den zugeschwol­lenen Augen rin­nt, ist in den Medi­en zu sehen und wird über­re­gion­al zum Sym­bol sowohl für die Protest­be­we­gung als auch für die Reak­tion von Seit­en der Staats­ge­walt.

In den Tagen danach, den unmit­tel­baren Tagen vor dem Erscheinen des Artikels in der Zeitschrift, sprechen die Ver­anstal­terIn­nen bei zwei Kundge­bun­gen vor über Hun­dert­tausend Protestieren­den. Es ist nicht abse­hbar, wie viele es noch wer­den kön­nen. Die Menge der Protestieren­den nimmt ten­den­ziell zu, obwohl die Proteste seit Monat­en andauern und die Beteili­gung alle Erwartun­gen über­trifft. Das Phänomen entzieht sich der Berechen­barkeit. Die Protest­be­we­gung fordert als unberechen­bares Phänomen umso mehr Aufmerk­samkeit ein, je länger die Menge der Per­so­n­en, die sich den Protesten im öffentlichen Raum anschließen, sukzes­sive zunimmt. Während der repres­sive Staat­sap­pa­rat mit seinen Mit­teln reagiert, kon­stru­iert der ide­ol­o­gis­che Staat­sap­pa­rat dif­famierende Images der Protestieren­den und Lesarten der Proteste.

Das Bild spontaner offener Versammlungen, «wo vorher nichts war»

Ein Jahr vor den Höhep­unk­ten der Stuttgarter Protest­be­we­gung bietet das Phänomen der Studieren­den­be­we­gung #uni­bren­nt ein ähn­lich­es Bild. Fünf Wochen lang nimmt die Zahl der beset­zten Hörsäle zu, bis aus­ge­hend von der Uni Wien der gesamte deutschsprachige Raum erfasst ist.

Das Bil­darchiv der #uni­bren­nt-Bewe­gung ist bis heute, das der S21 Protest­be­we­gung via fluegel.tv abruf­bar.

An den Protest­be­we­gun­gen von #uni­bren­nt und von Stuttgart lässt sich exem­plar­isch analysieren, wie neue Bewe­gun­gen ihre eige­nen tak­tis­chen Medi­en auf­bauen, das Bil­darchiv selb­st ver­wal­ten, damit die Bilder­ho­heit gegenüber den klas­sis­chen Medi­en haben und so zu bedeu­ten­den Stand­beinen der Bewe­gung wer­den.

Im Spätherb­st 2010 bre­it­et sich eine Protest­welle mit Großdemon­stra­tio­nen und Beset­zun­gen von Ver­wal­tungs­ge­bäu­den in Großbri­tan­nien aus. Nach dem 15. Mai 2011 ist in Spanien wochen­lang unab­se­hbar, welch­es Aus­maß die Bewe­gung der Indig­na­dos erre­ichen wird. In Eng­land ist mehrere Tage nach dem Aus­bruch der Krawalle in Tot­ten­ham am 6. August 2011 unklar, wie weit sich die Unruhen aus­bre­it­en wer­den. In Griechen­land kommt es bere­its seit Ende 2008 mehrfach zu schw­eren, mehrwöchi­gen Auss­chre­itun­gen, die von Athen aus auf weit­ere Städte über­greifen. Zeitweise wer­den 600 Schulen und einige Uni­ver­sitäten, 2010 wieder­holt Min­is­te­rien beset­zt.

Bei­de Phänome haben es über die Aufmerk­samkeitss­chwelle der Massen­me­di­en geschafft, für den «Riot Dog» existieren gar Wikipedia-Ein­träge.

Sowohl die Lon­don Riots als auch die Unruhen in Griechen­land wur­den von zwei pop­ulären Inter­net­phänomen begleit­et, dem Athen­er «Riot Dog» mit eigen­er Face­book-Seite, Blogs und Youtube-Clips seit 2008 sowie dem «Pho­to­shoploot­er»-Meme während der Unruhen in Eng­land. Die Phänomene sind in ihrer Struk­tur typ­isch für die viral selb­stor­gan­isierte, iro­nis­che Aneig­nung von Bildern und Nachricht­en. Dabei wer­den Bild­ma­te­ri­alien aus allen über das Inter­net zugänglichen Quellen bear­beit­et oder neu kon­tex­tu­al­isiert. Bilder wer­den über ver­schiedene Social-Media-Plat­tfor­men verteilt und neu kon­fig­uri­ert weit­er gegeben.

Alle diese Rebel­lio­nen erin­nern – wie die Ereignisse am Tahrir in den Tagen nach dem 25. Jan­u­ar 2011, im Capi­tol von Madi­son in Wis­con­sin in den Tagen nach dem 15. Feb­ru­ar 2011 oder bei Occu­py-Wall­street (#ows) in den Tagen nach dem 17. Sep­tem­ber 2011 – an Elias Canet­ti Schrift Masse und Macht:

Eine eben­so rät­sel­hafte wie uni­ver­sale Erschei­n­ung ist die Masse, die plöt­zlich da ist, wo vorher nichts war. [..] Es ist eine Entschlossen­heit in ihrer Bewe­gung, die sich vom Aus­druck gewöhn­lich­er Neugi­er sehr wohl unter­schei­det. Die Bewe­gung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefun­den haben.“ ((Elias Canet­ti: Masse und Macht [1960], Frank­furt am Main 1980, S. 14 u. 15))

Die so beschriebene Dynamik set­zt voraus, dass das Ziel nicht von vorn­here­in fest­ste­ht und dass es sich nicht um eine Ver­samm­lung von Men­schen han­delt, die Canet­ti als geschlossene Masse im Gegen­satz zur offe­nen Masse beze­ich­net. Ein gemein­sames Charak­ter­is­tikum jed­er Ver­samm­lun­gen von Men­schen der neuen Protest­be­we­gun­gen ist denn auch, dass sie offen und geduldig sind.

Abb. 4: Asamblea, Puerta del Sol, Madrid
Abb. 4: Die Asam­blea, hier am beset­zten Puer­ta del Sol in Madrid, ist für den Zus­trom weit­er­er Men­schen und die Teil­habe an der Diskus­sion der gemein­samen Angele­gen­heit­en offen. Die Offen­heit äußert sich auch in der Abwe­sen­heit der Sym­bole, Far­ben und «Uni­for­men» insti­tu­tion­al­isiert­er poli­tis­ch­er Organ­i­sa­tio­nen.

Die Ver­samm­lun­gen set­zen auf das Zusam­men­strö­men von Men­schen und auf die Prozesse, die dadurch evoziert wer­den: die von den vor Ort Anwe­senden selb­stor­gan­isierte Diskus­sion über ihre gemein­samen Angele­gen­heit­en und Anliegen.

For pol­i­tics to take place, the body must appear. I appear to oth­ers, and they appear to me, which means that some space between us allows each to appear. We are not sim­ply visu­al phe­nom­e­na for each oth­er – our voic­es must be reg­is­tered, and so we must be heard.“ ((Judith But­ler: Bod­ies in Alliance and the Pol­i­tics of the Street. In: Trans­ver­sal / EIPCP mul­ti­lin­gual web­jour­nal, 09, 2011))

Die Kör­p­er sind zudem die Bedin­gung für die Bilder. Die Bilder der inter­ve­nieren­den, sich Raum nehmenden Kör­p­er machen evi­dent, dass hier außergewöhn­lich­es passiert. Im dig­i­tal­en Zeital­ter erstreckt sich diese Sicht­barkeit auf das Inter­net. Bei der Ver­bre­itung der Bilder sind mehrere Kanäle sin­nvoll zu dif­feren­zieren:

  1. pro­fes­sionelle Bilder aus Print und Fernse­hen in Online-Medi­en,
  2. Weit­er­leitung und Rekon­tex­tu­al­isierung dieser Bilder aus pro­fes­sioneller Pro­duk­tion via Social Media,
  3. Ama­teur­bilder,
  4. Bilder von tak­tis­chen, in die Proteste einge­bet­ten Medi­en,
  5. Bilder, die vom pro­fes­sionellen Medi­en­sys­tem aufge­grif­f­en wer­den, weil sie in den Social Media des Inter­nets zu ein­er Sto­ry wer­den,
  6. Plat­tfor­men, die dem Spiel mit Bildern dienen und von denen sich virale Bilder­se­rien und ‑the­men in andere Kanäle ein­speisen.

Die Asam­blea, die Ver­samm­lung, ist ein kon­sti­tu­ieren­des Ele­ment, eben­so wie die Bedin­gung ihrer selb­stor­gan­isierten, basis­demokratis­chen Organ­i­sa­tion; Men­schen, die sich im gle­ichen Raum auf einan­der beziehen und den Prozess ein­er gemein­samen Debat­te begin­nen. Dieses Ele­ment ver­weist nicht nur auf anar­chis­tis­che und basis­demokratis­che Tra­di­tio­nen der neuen Bewe­gun­gen, son­dern im gle­ichen Maße auf in Onlinekom­mu­nika­tion gelebte Prax­en und die Net­zkul­tur. Der Prozess, was in und mit Ver­samm­lun­gen passiert, wie lange sie andauern, obliegt der laufend­en, selb­stor­gan­isierten Ausver­hand­lung der Anwe­senden. Die Kör­p­er, die sich im Zuge der aktuellen Protest­be­we­gun­gen zur gemein­samen Ver­samm­lung zusam­men find­en, machen zudem sicht­bar und vor Ort spür­bar, dass sie bleiben, dass dem begonnene Ver­samm­lung­sprozess und der Debat­te keine Ablauf­frist geset­zt wird. Damit bleibt offen, wie groß die Ver­samm­lun­gen und Massen wer­den.

Dass eine Gruppe mit ihren Kör­pern eine Ver­samm­lung im öffentlich zugänglichen Raum begin­nt, ist, eben­so wie die Offen­heit der Ver­samm­lung, nicht nur Ein­ladung zur Teil­habe, son­dern Bedin­gung für die Möglichkeit, dass eine kri­tis­che Masse zusam­men find­en kann, die Sog­wirkung entwick­elt. Eine weit­ere Bedin­gung beschreibt Canet­ti in sein­er Auto­bi­ografie:

Ich las im Kaf­fee­haus in Ober-St. Veit die Mor­gen­zeitung. Ich spüre noch die Empörung, die mich überkam, als ich die ‚Reich­spost’ in die Hand nahm; da stand als riesige Über­schrift: ‚Ein gerecht­es Urteil’“. Im Bur­gen­land war geschossen, Arbeit­er waren getötet wor­den. Das Gericht hat­te die Mörder freige­sprochen. […] Aus allen Bezirken Wiens zogen die Arbeit­er in geschlosse­nen Zügen vor den Jus­tiz­palast, der durch seinen bloßen Namen das Unrecht verkör­perte.“ ((Elias Canet­ti: Die Fack­el im Ohr. Lebens­geschichte 1921-193, München/Wien 1980))

Die Empörung, von der Canet­ti schreibt, ist heute der verbindende Name der Indig­na­dos-Bewe­gung.

Rückkehr der Verbotsmasse als politische Kraft

Trotz allen zahlen­mäßig großen Aktion­sta­gen der neuen Protest­be­we­gun­gen erscheint die Anzahl der Protestieren­den auf den diversen Schau­plätzen nicht außergewöhn­lich hoch. Das Phänomen der Masse ist nicht nur nicht neu, große Massen sind in unser­er europäis­chen Gesellschaft seit den 1930er-Jahren nicht mehr ver­schwun­den. Die Fasz­i­na­tion des neuen hat­te sie im fin de siè­cle als Gus­tave Le Bons «Die Psy­cholo­gie der Massen» 1895 erschien und noch in den ersten bei­den Jahrzehn­ten des 20. Jahrhun­derts. Heute kom­men bei Sportver­anstal­tun­gen, einem Karneval, der Love-Parade oder anderen Großver­anstal­tun­gen hun­dert­tausende und Mil­lio­nen Men­schen zusam­men.

Auch bei poli­tis­chen Großkundge­bun­gen gibt es immer wieder hun­dert­tausende Teil­nehmerIn­nen. Über Großdemon­stra­tio­nen des Europäis­chen Gew­erkschafts­bunds mit 300.000 Teil­nehmerIn­nen wird den­noch medi­al kaum berichtet. Die Bilder wirken bekan­nt, beliebig und aus­tauschbar: Die geord­nete Großdemon­stra­tion ist kein über­raschen­des Phänomen und ruft kaum Reak­tio­nen der staatlichen Repres­sions- oder Ide­olo­gieap­pa­rate her­vor. Der Demon­stra­tionszug find­et im rit­u­al­isierten, durch die Kon­ven­tion bes­timmten Rah­men statt: angemeldet und mit vorstruk­turi­ertem Zeit- und Ablauf­plan, wie ein Event der Freizeitin­dus­trie mit Ord­nern, Uni­for­men, Fan­abze­ichen, klar begren­zt und abgren­zend. Die Macht­demon­stra­tion ist ein­schätzbar. Es ist nicht nur erwart­bar, welche Räume genutzt wer­den, son­dern wann der Demon­stra­tionsauflauf abge­zo­gen ist, ohne Spuren zu hin­ter­lassen. An dieser Stelle sei erneut auf But­ler ver­wiesen:

We miss some­thing of the point of pub­lic demon­stra­tions, if we fail to see that the very pub­lic char­ac­ter of the space is being dis­put­ed and even fought over when these crowds gath­er.“

Wenn wir diesen Punkt sehen, soll­ten wir die daran anschließende Frage eben­falls nicht überse­hen. Wie weit geht in konkreten Fällen das Infragestellen, was wird nicht als strit­tig the­ma­tisiert, welche Vorstel­lun­gen und Kon­ven­tio­nen wer­den auch im Stre­it­fall repro­duziert?

Verge­gen­wär­ti­gen wir uns übliche, gewohnte, ergo rit­u­al­isierte Nutzun­gen zum Beispiel des Puer­ta del Sol in Madrid, so erscheinen fol­gende Bilder leicht vorstell­bar: Der Platz leer. Der Platz bevölk­ert von strö­menden TouristIn­nen oder Kon­sumentIn­nen. Der Platz tem­porär ges­per­rt und mit Feiern­den befüllt – etwa im Zuge eines Stadt­fests. Der Platz durch Wahlkampfwer­bung vere­in­nahmt, durch Bühne und Pub­likum beset­zt. Oder der Platz als Begeg­nungsraum und Bühne für all diese Nutzun­gen nebeneinan­der: TouristIn­nen, kon­sum­ierende Men­schen, eine Kundge­bung abhal­tende Men­schen und Ord­nungskräfte. Diese Nutzungs­for­men sind bekan­nt, find­en nach ausver­han­del­ten Regeln statt und passen sich als nicht störend in unsere Wahrnehmung der Stadt wie in die Medi­en­berichter­stat­tung ein. Wenn beim Karneval oder der Sieges­feier nach dem Sport­großereig­nis außer­halb dieser Rit­uale gel­tende Regeln ver­let­zt wer­den, sind das im Rah­men des Festes keine Regelver­let­zun­gen.

Die Nutzung von Plätzen und Raum durch die neuen Protest­be­we­gun­gen ver­läuft anders. Ablauf und Dauer der Ver­samm­lun­gen sind offen. Sie wer­den als neu und frem­dar­tig wahrgenom­men. Die men­schlichen Kör­p­er und Ein­rich­tung­steile wie Zelte drück­en aus, dass sich hier Men­schen Raum über die erwart­bare, kon­ven­tionelle Nutzung hin­aus nehmen. Sie ver­hal­ten sich nicht als Pas­san­tInnen oder TouristIn­nen son­dern nehmen den Platz in Besitz und ver­let­zen bewusst die herrschen­den Kon­ven­tio­nen. In der Sys­tem­atik Canet­tis sind die Asam­bleas der Indig­na­dos und der Ver­samm­lun­gen der Occu­py-Bewe­gung Ver­bots­massen. «Alle weigern sich zu tun, was eine äußere Welt von ihnen erwartet.» ((Elias Canet­ti: Masse und Macht [1960], Frank­furt am Main 1980, S. 14 u. 15))
Die Präsenz dieser sich unkon­ven­tionell ver­hal­tenden Kör­p­er macht die in Stre­it gestell­ten Kon­ven­tio­nen sicht­bar, wodurch sie gle­ichzeit­ig the­ma­tisiert wer­den. Das «Hand­buch der Kom­mu­nika­tion­s­gueril­la» beschreibt das nicht nur als ver­frem­den­des Spiel und als Ver­let­zung der kul­turellen Gram­matik, son­dern nen­nt solche Inter­ven­tio­nen eine Tech­nik im Arse­nal poli­tis­ch­er Hand­lung­sop­tio­nen. Durch die Anwen­dung dieser Tech­nik in ver­schiede­nen Städten und die Wieder­hol­ung über Tage, Wochen und Monate hin­aus, wird aus der Ver­let­zung der Kon­ven­tion selb­st eine neue Kon­ven­tion.

Abb. 5: Occupy Frankfurt vor der EZB
Abb. 5: Occu­py Frank­furt, das seit 15. Okto­ber 2011 ständig beset­zte Zelt­dorf im Angesicht der Europäis­chen Zen­tral­bank und der Glastürme der großen Finanzkonz­erne.

Eine Demokratisierung der Plätze

Ist die Ver­samm­lung dadurch etabliert, dass Kör­p­er einen zen­tralen Raum in Besitz nehmen, verbleiben die Men­schen auf dem Platz, über­nacht­en dort und bauen ihre autonome Infra­struk­tur auf. Die Präsenz der in All­t­agsrou­ti­nen inter­agieren­den Kör­p­er illus­tri­ert, dass diese momen­tan Anwe­senden die Regeln für diesen Gel­tungs-Raum bes­tim­men; sicht­bar in ihrem disku­tieren, kochen, essen, Vor­räte ver­wal­ten, Inter­views führen, Trans­par­ente fer­ti­gen, Bilder machen, in Medien­zen­tren ein- und aus­ge­hende Kom­mu­nika­tion organ­isieren, Müll ent­fer­nen, Ple­na abhal­ten und Beschlüsse fassen.
Die Gemeinde des Platzes (dēmos), bietet kaum das Bild eines Mobs, aber auch nicht das Bild ein­er ein­fachen, homo­ge­nen Masse. Die AktivistIn­nen organ­isieren das Gemein­we­sen eines Platzes, dif­feren­zieren arbeit­steilig Funk­tions­bere­iche aus. Es herrscht im wörtlichen Sinne Demokratie, nicht die abstrak­te repräsen­ta­tive Demokratie mit nation­al­staatlichem Gel­tungs­bere­ich, son­dern vor Ort konkrete Demokratie in einem klar begren­zten Gel­tungs­bere­ich.

Da die Bedürfnisse und Funk­tio­nen der wach­senden Gemeinde erfüllt und von der Bevölkerung des Platzes organ­isiert wer­den, bilden sich Gemein­we­sen, kleine (Zelt-)Städte in den Städten aus. Der Raum ist gegliedert in Funk­tion­sräume für Schlaf, Rück­zug, medi­zinis­che Ver­sorgung und Lager. Im Zen­trum liegen die Räume für die Ple­na, das Forum für die basis­demokratis­che Debat­te der öffentlichen Angele­gen­heit­en. Daneben existieren Begeg­nungsräume für dis­tanziert­ere, beobach­t­ende Par­tizipa­tion an den Debat­ten, Anlauf­stellen für die Infor­ma­tionsverteilung am Platz, Kom­mu­nika­tions- und Medien­zen­tren mit eigen­er tech­nis­ch­er Infra­struk­tur, eige­nen Medi­en­ak­tivistIn­nen und eigen­er Pressear­beit sowie Rück­zugsräume für Bil­dungsak­tiv­itäten, Work­shops, Besprechun­gen, die Ausar­beitung. Der­art selb­stor­gan­isierte Plätze inmit­ten zen­tral gele­gen­er öffentlich­er Räume, sind ein Labor dis­si­den­ter Selb­stor­gan­i­sa­tion als Stät­ten, auf denen Wider­stand als alltägliche Prax­is demon­stri­ert wird.

Das wichtig­ste ist Kom­mu­nika­tion. Die län­gere Beset­zung der Plätze dient mehr der Debat­te, der prinzip­iellen Diskus­sion gemein­samer Angele­gen­heit, als der Kundge­bung. Von den beset­zten Plätzen wie von umkämpften Räu­men ist immer wieder zu hören, dass es den AktivistIn­nen nicht darum geht, mit dem einen oder anderen Anliegen gehört zu wer­den.
Ziel der Protest­be­we­gun­gen ist so gut wie nie, in Ver­hand­lun­gen mit poli­tis­chen Entschei­dungsträgerIn­nen zu kom­men. In den Ver­samm­lun­gen wird mit Poli­tik selb­st exper­i­men­tiert und von Beginn an ein expliz­it ander­er Poli­tik­be­griff in den Mit­telpunkt gestellt. Im Zen­trum dieses Begriffs ste­ht die gemein­same, inklu­sive und offene Debat­te im öffentlichen Raum. Die Ver­samm­lun­gen, die in Besitz genomme­nen selb­stver­wal­teten Plätze, die selb­stor­gan­isierten alter­na­tiv­en Nutzun­gen der Räume sind radikale Gege­nen­twürfe. Die Beset­zerIn­nen wen­den sich nicht an das poli­tis­che Sys­tem, son­dern wen­den sich vom poli­tis­chen Sys­tem ab.

AktivistInnen von #ows in New York
Ein «Free Speech Zone» Schild bei #occu­py Wall­street. Da den AktivistIn­nen in New York die Nutzung von Mega­fo­nen unter­sagt wurde, wer­den Wort­mel­dun­gen ein­er Per­son von den Umste­hen­den laut im Chor Satz für Satz wieder­holt, damit die poli­tis­che Rede über die Beschränkung der einzel­nen men­schlichen Stimme hin­aus weit­er getra­gen wird. Zur laut­en Weit­er­leitung der eige­nen Stimme kann jede Per­son aufrufen, indem sie zweimal laut «Mic Check! Mic Check!» ruft.

Es ist ein sich wieder­holen­des und auf den Plätzen immer wieder konkret erfahrbares Missver­ständ­nis, Debat­te hier als Diskus­sion ein­er Sach­frage zu ver­ste­hen, die möglichst effizient, schnell und durch eine Abstim­mung legit­imiert, zu einem Ergeb­nis gebracht wer­den soll. Dieses Missver­ständ­nis kommt von außen und illus­tri­ert, wie unvorstell­bar und strit­tig es heutzu­tage ist, das Ide­al attis­ch­er Demokratie aus dem Kanon der Schul­bil­dung in die prak­tis­che Erfahrung der post­demokratis­chen Stadt zu über­tra­gen.

In der medi­alen Ver­bre­itung dominieren neben den Bildern man­i­fester Kon­flik­te zwis­chen AktivistIn­nen und Sicher­heit­skräften jene, die einen mit Kör­pern über­vollen Platz zeigen. Diese Bilder zeigen nicht die All­t­agssi­t­u­a­tion auf eben densel­ben Plätzen. Das symp­to­ma­tis­chere Bild für das neue Gespenst ist der Live-Stream der stun­den­lang andauern­den Debat­te eines offe­nen Plenums. Ein beschreiben­des Bild sind die Info­tis­che und Anschläge mit den Zwis­chen­stän­den von Debat­ten und Arbeits­grup­pen. Beze­ich­nend sind die Innen­leben der IT-Zelte und eige­nen Medien­zen­tren, die Kon­tenpunk­te, über welche die lokalen Debat­ten mit jenen auf anderen Plätzen und in anderen Räu­men ver­bun­den sind.

Ein Merk­mal der neuen Protest­be­we­gun­gen ist die Beset­zung von zen­tralen Plätzen und neu­ral­gis­chen Räu­men, um eben diese Räume als Stät­ten für öffentliche Debat­ten zu öff­nen. Der Raum wird geöffnet für die gemein­same Debat­te der Angele­gen­heit­en aller. Die Ver­samm­lun­gen sind inklu­siv und unbes­timmt. Sie set­zen die hier­ar­chis­chen, exk­ludieren­den Regeln herrschen­der poli­tis­ch­er Mei­n­ungs­bil­dung außer Kraft. Sie sind Ver­suche eines herrschafts­freien Diskurs­es.

Das Bild des Wut­bürg­ers zeich­net ein gegen­teiliges Bild. Der Kör­p­er des Wut­bürg­ers ist durch Wut verz­er­rt, blind vor Wut und gilt als unberechen­bar. Die Kon­struk­tion und bre­ite Per­pe­tu­ierung dieses Images wirft ein tre­f­fend­es Licht darauf, dass die herrschende Klasse besorgt ist und vor den offe­nen Ver­samm­lun­gen Angst hat. Der öffentliche Raum kön­nte — wieder — Bren­npunkt poli­tis­ch­er Debat­ten wer­den, die von Beginn an abseits des etablierten poli­tis­chen Sys­tems stat­tfind­en und in ihrem Ablauf und ihrer Sog­wirkung tat­säch­lich unberechen­bar sind.