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Menschenrecht auf Internet?

Für eine Pub­lika­tion des öster­re­ichis­chen Co:Lab einen Gedanken­gang aus­ge­führt, der seit ger­aumer Zeit im Hin­terkopf herum­schwirrt und der bis­lang nur in vere­inzel­ten Gesprächen debat­tiert wurde. Das waren dann auch nicht allzu viel Gele­gen­heit­en, den Argu­men­ta­tion­sstrang über­prüfen zu lassen.

Es han­delt sich also um eine recht rohe, aus Zeit- und Energiegrün­den etwas schlu­drig aus­gear­beit­ete Skizze. Also bitte zerpflück­en. Und auf­sam­meln was brauch­bar ist.

 

Die These:

Update: Mit­tler­weile auch in Kappes/Krone/Novy (Hg): Medi­en­wan­del kom­pakt 2011–2013 erschienen.

Da “das Inter­net” keine ein­fache Ressource ist son­dern etwas eben­so kom­plex­es wie divers­es, umfassend gar nicht bes­timm­bares, das sich in unab­se­hbar­er Weise weit­er entwick­elt und auch in seinem Wesen trans­formiert wer­den kann, greifen Forderun­gen nach einem Men­schen­recht auf Zugang zu kurz. Das Inter­net wird in gesellschaftlichen Prozessen verän­dert und es trans­formiert umgekehrt unsere Gesellschaften.
Vor diesem Hin­ter­grund sollte von einem Recht auf Teil­habe am Inter­net aus­ge­gan­gen wer­den und das heißt, auf Teil­habe an den gesellschaftlichen Prozessen der Weit­er­en­twick­lung, Reg­ulierung und Ver­wal­tung des Inter­nets.

 

Rechte eines jeden Menschen _am_ Internet

Ein Plä­doy­er für die generelle Forderung auf gle­ich­berechtigte Mitbes­tim­mung bei der Regelung und Ver­wal­tung des Inter­net

Recht oder Privileg

Debat­ten zu Inter­net und zu Men­schen­recht­en gibt es seit ger­aumer Zeit. Die For­mulierung der gesellschaftlichen Forderung eines all­ge­meinen Rechts auf Zugang zum Inter­net ist beina­he so alt wie das Inter­net selb­st. Wirft men­sch die Such­maschi­nen an und begin­nt “inter­net”, “access” und “right” einzugeben, so wer­den Auto-Aus­füll­funk­tio­nen vielle­icht zusät­zlich “human right” oder “or priv­i­lege” vorschla­gen. Die Suchtr­e­f­fer führen jeden­falls dahin, dass diese Diskus­sion auf vie­len Ebe­nen geführt wird, dass die Vere­inigten Natio­nen offen­sichtlich der Ansicht sind, der Zugang zu Inter­net sei ein fun­da­men­tales Recht, und dass einzelne Staat­en ein entsprechende Recht bere­its kod­i­fiziert haben.

Die Frage, ob es angesichts des Inter­nets neuer Men­schen­rechte bedarf, ist also in der einen und anderen Form schon ein paar mal beant­wortet wor­den. Sie wurde 2003 am ersten “World Sum­mit on the Infor­ma­tion Soci­ety” disku­tiert und ist auch auf der Ebene der Vere­in­ten Natio­nen bis heute The­ma. Sie wird weit­er gestellt wer­den. Sie wird noch des öfteren in die eine oder andere Rich­tung beant­wortet wer­den.

Matthias Ket­te­mann hat in seinem Beitrag “Neue Men­schen­rechte für das Inter­net?” (Kapi­tel 2.1.) zu dieser Pub­lika­tion dargelegt, dass er aus juris­tis­ch­er Per­spek­tive die Notwendigkeit neuer Men­schen­rechte für das Inter­net nicht sieht. Vielmehr müsse um- und durchge­set­zt wer­den, dass “was offline gilt, auch online gel­ten muss”. Es gilt den errun­genen Men­schen­recht­en erster, zweit­er und drit­ter Gen­er­a­tion zur Durch­set­zung zu ver­helfen (siehe Kap. 1.1. Der Zusam­men­hang von Ethik und Recht und die Rolle der Men­schen­rechte von Christof Tschohl). ((Die Ver­weise zu anderen Beiträ­gen inner­halb der Co:Lab AT Pub­lika­tion  um solche han­delt es sich hier und weit­er unten noch ein paar Mal  ­ver­linke ich ex post, sobald alles online gegan­gen ist.))

So stim­mig diese Sicht und so wichtig dieser Zugang ist, so komme ich angesichts der grundle­gen­den Fragestel­lung doch zu einem anderen Schluss: Die For­mulierung und Etablierung von uni­ver­salen Recht­en eines jeden Men­schen in Bezug auf das Inter­net wären ein immenser gesellschaftlich­er Fortschritt. Es wäre zu hof­fen, und das dur­chaus im Sinne der Parolen der franzö­sis­chen Rev­o­lu­tion und aus der Per­spek­tive der Men­schen­rechte, dass die poli­tis­chen, ökonomis­chen, kul­turellen und also gesamt­ge­sellschaftlichen Kämpfe zur Durch­set­zung dieser Rechte irgend­wann erfol­gre­ich sind.

Welche Rechte jed­er Einzel­nen am Inter­net alleine vor dem Hin­ter­grund Men­schen­würde abgesichert sein soll­ten, und warum es sich lohnen würde, für die Rechte aller am Inter­net zu kämpfen, soll im Fol­gen­den entwick­elt wer­den.

Begründungen des Rechtsanspruchs

Das Recht auf Zugang soll absich­ern helfen, dass nie­mand gegen den eige­nen Willen vom Inter­net aus­geschlossen wer­den kann. Dass ein erzwun­gener Auss­chluss vom Inter­net eine emi­nente Benachteili­gung darstellt, ist im zweit­en Jahrzehnt des ein­undzwanzig­sten Jahrhun­derts nicht mehr bestre­it­bar. Frühe Forderun­gen aus den 1990er Jahren zeigen, dass diese Entwick­lung lange abse­hbar war und früh gese­hen wurde. Die dom­i­nante Argu­men­ta­tion­slin­ie für das Recht auf Inter­net­zu­gang, damals wie heute, stellt den unge­hin­derten Zugang zu Infor­ma­tion (Infor­ma­tions­frei­heit) und das Recht auf freie Mei­n­ungsäußerung sowie deren Bedeu­tung für lib­erale demokratis­che Gesellschaften in den Vorder­grund: das Inter­net als Infor­ma­tions- und Pub­lika­tion­sraum, der für Teil­habe an gesellschaftlichen Debat­ten und an poli­tis­chen Mei­n­ungs­bil­dung­sprozessen grundle­gend gewor­den ist.

Fol­gen wir der Argu­men­ta­tion von Matthias Ket­te­manns Beitrag in diesem Band, müsste tat­säch­lich von den beste­hen­den Men­schen­recht­en der Infor­ma­tions­frei­heit und dem Recht auf freie Mei­n­ungsäußerung ableit­bar sein, dass nie­man­dem der Zugang zum Inter­net prinzip­iell ver­wehrt wer­den darf, weil das diese uni­ver­salen Rechte ver­let­zen würde. Inter­netsper­ren wider­sprechen dem­nach eigentlich fun­da­men­tal­en Men­schen­recht­en (siehe Kap. 2.2. Inter­netsper­ren und Men­schen­rechte von J. Messer­schmidt).

Der Fokus auf Infor­ma­tions- und Mei­n­ungs­frei­heit lässt in den Hin­ter­grund treten, dass es “das Inter­net” auch für eine Rei­he ander­er Men­schen­rechte braucht. Es ste­ht heute im Rang grundle­gen­der Infra­struk­tur, ähn­lich dem Post- und Verkehr­swe­sen oder der Strom- und Gasver­sorgung. Wer keinen Zugang hat und wer keine E‑Mail-Adresse nutzen kann, ist in unser­er Gesellschaft schlechter gestellt als andere und diese Benachteili­gung geht soweit, dass unfrei­willige Inter­net­ferne als ein Indika­tor für Seg­re­ga­tion gel­ten kann. Über keine E‑Mail-Adresse ver­fü­gen zu kön­nen ste­ht in ein­er Rei­he mit kein Bankkon­to haben und keine Tele­fon­num­mer angeben kön­nen für gesellschaftlichen Auss­chluss.

Das Inter­net” in sein­er gegen­wär­ti­gen Form ist essen­tiell für das Recht auf Bil­dung, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Teil­habe am kul­turellen Leben, das Recht auf Selb­st­bes­tim­mung der Völk­er, das Recht auf Entwick­lung, um nur die offen­sichtlichen Men­schen­rechte zu nen­nen, die ohne Zugang zum Inter­net für viele nicht (mehr) sich­er gestellt sind. Freilich stellt das Inter­net in sein­er gegen­wär­ti­gen Form auch eine Bedro­hung für fun­da­men­tale Rechte dar, vor­rangig für Per­sön­lichkeit­srechte, das Recht auf Frei­heit vor willkür­lichen Ein­grif­f­en in die Pri­vat­sphäre (siehe Kap. 2.4. Wir haben ein Recht auf Anonymität von M. Bauer, Kap. 2.5. Inter­net-Men­schen­rechte in der arbeit­srechtlichen Kampf­zone von T. Kreiml sowie Kap. 2.6. Par­a­dig­men­wech­sel “Vor­rats­daten­spe­icherung” im europäis­chen Daten­schutzrecht von Chr. Tschohl und Kap. 2.7. Die Reform des EU Daten­schutzrechts von A. Krisch).

Des Internets Metamorphosen

Das Inter­net” ändert sich. Es ist schwierig zu sagen, was das Inter­net auch nur gegen­wär­tig ist, geschweige denn, wie es in drei, in fünf oder erst recht in zwanzig Jahren ausse­hen und in sein­er ganzen Kom­plex­ität funk­tion­ieren wird. Zur Zeit der frühen Forderun­gen nach einem Men­schen­recht auf Inter­net­zu­gang kon­nte möglicher­weise etwas wie ein Bre­it­ban­dan­schluss oder ein Inter­net of Things (IoT) antizip­iert wer­den, aber unmöglich die gesellschaftliche Bedeu­tung von Google oder Face­book (siehe dazu auch Kap. 3.2. Ist Face­book ein neuer öffentlich­er Raum? von M. Ket­te­mann), die Entwick­lun­gen eines SEO-Gewerbes, der Branche der Social Media Man­ag­er oder der “Data Deal­er”, die Emer­genz neuer gesellschaftlich­er Modi der Selb­stor­gan­i­sa­tion wie im Fall von Anony­mous, beim Gut­ten­Plag oder – früher – ein­er Wikipedia.

Das wozu wir Zugang haben und wofür wir für alle Men­schen gle­icher­maßen ein all­ge­meines Zugangsrecht sich­ern wollen, weil es für die Frei­heit­en der Einzel­nen und für die demokratis­che Ver­fas­sung aller so ele­men­tar ist, das bleibt über die Zeit hin­weg nicht stetig iden­tisch. Mit diesem Gedanken schiebt sich ein unan­genehmer Ver­dacht ins Blick­feld. Was wenn “das Inter­net” irgend­wann nicht mehr dieses “das Inter­net” ist, dem wir diese Bedeu­tung zumessen. In den let­zten Jahren häufen sich die War­nun­gen vor einem dro­hen­den “Ende des freien Inter­nets” (Zur Ver­i­fizierung ein­fach die Phrase in eine Such­mas­chine eingeben).

Heute tun wir uns ger­ade noch schw­er, uns einen per­so­n­en­spez­i­fis­chen vol­lkom­men Auss­chluss vom Inter­net vorzustellen, ob durch staatliche Gewalt oder die Willkür eines Unternehmens durchge­set­zt (“Ich kann immer noch bei jeman­den anderen und mit anderen Geräten sur­fen”). Dabei kön­nte das immer konzen­tri­ert­ere Vorge­hen gegen Anonymität irgend­wann darin enden, dass der Inter­net­zu­gang ohne bio­metrische Iden­ti­fizierung nicht mehr möglich oder erlaubt ist. Dieses eine Beispiel soll lediglich zeigen, “das Inter­net” über­fordert unsere Vorstel­lung, nicht zulet­zt weil es in der Men­schheits­geschichte immer noch rel­a­tiv neu ist.

Das, was es ist, entwick­elt sich laufend weit­er, eben­so was es alles bedeutet, was es alles evoziert und so weit­er. Wir wis­sen nicht, was “das Inter­net” in einiger Zeit von jet­zt sein wird.

Es wäre töricht, für die ange­sproch­enen laufend­en Verän­derun­gen dessen, was das Inter­net ist, automa­tisch das Bild von Fortschritt im Sinne pos­i­tiv­er Weit­er­en­twick­lung anzunehmen. “Das Inter­net” ist im Großen und Ganzen eben­so wie in vie­len Teil­bere­ichen Objekt kom­plex­er gesellschaftlich­er Kämpfe und das gle­ichzeit­ig auf glob­aler, transna­tionalen, auf regionalen und nationalen Ebe­nen.

Wenn “das Inter­net” sich aber laufend ändert, stellt sich die Frage nach der Trag­weite ein­er Forderung, die sich auf den Aspekt des Zugangs beschränkt. Mitte der 1990er hat­te men­sch mit einem Inter­net­zu­gang zu einem anderen Inter­net Zugang als 2005. Der Begriff “Web 2.0” benen­nt genau diesen Punkt direkt, die Emer­genz von etwas Neuem mit neuen Sys­tem­logiken, das nicht mehr so funk­tion­iert und zu ver­ste­hen ist wie “vorher”.
Bald ein Jahrzehnt später unter­liegt das Inter­net weit­er ras­an­ten Entwick­lun­gen. Und es hat ras­ante Entwick­lun­gen wie den so genan­nten “ara­bis­chen Früh­ling” und den tief­greifend­en Struk­tur­wan­del des massen­medi­alen Sys­tems befördert.

Sim­pel zusam­menge­fasst: Gesellschaft ändert Inter­net, Inter­net ändert Gesellschaft.
(Wie wäre der Tur­bo­fi­nanzkap­i­tal­is­mus ohne Inter­net und Glas­faserk­a­bel denkbar? Wie das Inter­net in gegen­wär­tiger Form ohne die erste Gen­er­a­tion der Freie Soft­ware — Bewe­gung?)

Asymmetrien verstärkend oder entschärfend?

Heute wird allen­thal­ben vom Recht auf Zugang zu Face­book, Twit­ter oder Youtube gesprochen. Der Auss­chluss von ein­er dieser Plat­tfor­men entspricht mit­tler­weile in eini­gen Fällen dem, was das Recht auf Inter­net­zu­gang sich­ern sollte: Auss­chluss von Infor­ma­tions- und Mei­n­ungs­frei­heit. In diesen Fällen genügte es nicht, den all­ge­meinen Zugang zum Inter­net als Men­schen­recht abzu­sich­ern. Umgekehrt bliebe auch nicht viel von der Inten­tion über, wenn Zugang irgend­wann zu etwas führt, was jede und jeden einzel­nen – ähn­lich dem Zugang zu Radio und Fernse­hen – auf wenige, von anderen willkür­lich vorgegebene Nutzung­möglichkeit­en beschränkt.

Die For­mulierung des Recht­sanspruchs, des Rechts auf Inter­net beziehungsweise am Inter­net, muss struk­turellen Wan­del mit­denken. Sie sollte dem Anspruch auf Mit­sprache bei der Gestal­tung, Regelung und Ver­wal­tung des Inter­nets gerecht wer­den. Und hier find­et sich die Unter­schei­dung zu der von Matthias Ket­te­mann for­mulierten Posi­tion. Es genügt nicht, nur den gülti­gen Men­schen­recht­en im Inter­net zur Gel­tung zu ver­helfen, um das Teil­haberecht an den öffentlichen Diskursen und poli­tis­ch­er Mei­n­ungs­bil­dung zu sich­ern. Es bedarf der anerkan­nten und durch­set­zbaren Teil­haberechte am Inter­net selb­st. Nur auf dieser Basis kann, würde ich argu­men­tieren, auf Dauer das Recht jed­er und jedes Einzel­nen auf Gle­ich­berech­ti­gung unab­hängig von Merk­malen wie eth­nis­ch­er, sozialer oder religiös­er Zuge­hörigkeit, sex­ueller Ori­en­tierung oder Behin­derung und unab­hängig von Wohl­stand, Sta­tus oder Weltan­schau­ung gesichert wer­den.

Nur durch Rechte nicht allein auf son­dern am Inter­net, wird Schutz vor staatlich­er wie auch pri­vatwirtschaftlich­er Willkür, die Abwehr von von Ein­grif­f­en in den geschützten Frei­heits­bere­ich der Einzel­nen abgesichert.

Das Inter­net, und hier braucht es wieder den Zusatz “in sein­er gegen­wär­ti­gen Form”, ver­größert den Hand­lungsspiel­raum sowohl der gesellschaftlichen Starken und Mächti­gen als auch der sozial Benachteiligten und Schwachen. Den Herrschen­den bieten sich ungeah­nte Möglichkeit­en der Überwachung, Kon­trolle und Diszi­plin­ierung durch das tief in die Pri­vat­sphären hinein operierende Inter­net. Den Unter­drück­ten und Aus­ge­beuteten bietet es Aus­gren­zung, Schranken und Repres­sion über­brück­ende Optio­nen zur Selb­stor­gan­i­sa­tion, Zusam­me­nar­beit und Organ­isierung.

In dieser Sit­u­a­tion ist es offen­sichtlich, dass “das Inter­net” zum Objekt gesellschaftlich­er Kämpfe wer­den muss. Die asym­metrischen Machtver­hält­nisse in unseren Gesellschaften weltweit und in der Welt­ge­sellschaft all­ge­mein kön­nen durch gesellschaftlichen Ein­fluss auf “das Inter­net” und auf das, was “das Inter­net” in Zukun­ft sein wird, in die eine oder andere Rich­tung bee­in­flusst wer­den. Von selb­st im Gle­ichgewicht bleiben, wer­den sie jeden­falls nicht (und mit Gle­ichgewicht sei die gegen­wär­tige Aus­gangslage ohne Wer­tung in die eine oder andere Rich­tung definiert).

Kurz: das Inter­net in zehn Jahren wird die Asym­me­trie der Machtver­hält­nisse gemessen an heute ver­schär­fen oder abschwächen. Und hier sehe ich den Auf­trag, weit­erge­hende Teil­haberechte am Inter­net zu fordern; auch um die Abwehrrechte gegenüber jen­er Seite zu stärken, die am län­geren Hebel asym­metrisch­er Machtver­hält­nisse agieren kann.

Abwehr- und Teilhaberechte

Es gibt ein Beispiel, wo diese Abwehr- und Teil­haberechte im Angesicht des Inter­nets heute schon ableit­bar sind. Dieses Beispiel mag ein gen­uin öster­re­ichis­ches sein und bet­rifft die Ver­fas­sung der Arbeitswelt:

Das Arbeitsver­fas­sungs­ge­setz gibt dem Betrieb­srat als Vertre­tung­sor­gan Mitbes­tim­mungsrechte für die Belegschaft und Kon­troll­rechte gegenüber ein­er Betriebs- oder Unternehmensleitung. Der Betrieb­srat hat ein Ver­hand­lungs­man­dat und kann Verträge mit der Unternehmensführung abschließen, die dann ein Ele­ment der Betrieb­sver­fas­sung darstellen; zum Beispiel: welche Regeln gel­ten für die Nutzung der Tele­fo­nan­lage, für den Gebrauch von E‑Mails, des Inter­nets oder des Zeit­er­fas­sungssys­tems. Damit wird der Spiel­raum willkür­lich­er Maß­nah­men, Regelun­gen und Forderun­gen des Man­age­ments eines Unternehmens gegenüber den im Unternehmen Arbei­t­en­den beschränkt.

Den Abschluss ein­er Betrieb­svere­in­barung “Inter­net” (und “E‑Mail”) kann der Betrieb­srat fordern, weil das Inter­net “zus­tim­mungspflichtig” ist. Das heißt, die geset­zlich vorge­se­hene Kör­per­schaft Betrieb­srat hat das Recht, die Nutzung des Inter­nets im Betrieb von der Zus­tim­mung dieses Organs abhängig zu machen. Zus­tim­mungspflichtig ist die Nutzung des Inter­nets wiederum, weil jede Nutzung per se die Men­schen­würde der Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er berührt. ((Josef Cerny et al.: Arbeitsver­fas­sungsrecht. Geset­ze und Kom­mentare 157. Band 3, 4. Auflage, Wien: ÖGB Ver­lag, S. 152f.))

Das bedeutet in der Prax­is nun lediglich, das eine Unternehmensführung in Öster­re­ich die Inter­net­nutzung nicht recht­ens aus­gestal­ten kann wie es ihr beliebt, wenn ein Betrieb­srat kon­sti­tu­iert ist und die Mitbes­tim­mungsrechte ein­fordert. In der Prax­is gibt es nicht immer einen Betrieb­srat und selb­st wenn ein­er kon­sti­tu­iert ist, wird kaum irgend­wo ein­mal per einst­weiliger Ver­fü­gung in einem Betrieb das Inter­net abge­dreht, weil dem Betrieb­srat der Abschluss ein­er Betrieb­svere­in­barung “Inter­net” ver­weigert wird, zu der er zus­tim­men kann.

Die Asym­me­trie der Machtver­hält­nisse zwis­chen Unternehmensführung und Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­ern macht es zudem für erstere leicht, die Rechte zweit­er­er zu ignori­eren. Es ist wahrschein­lich, dass sie bei Mis­sach­tung der Per­sön­lichkeit­srechte ohne Kon­se­quen­zen davonkom­men, weil die Kon­trolle der tech­nis­chen Infra­struk­tur in den Hän­den erster­er liegt. Log-Files wie E‑Mails sind jed­erzeit und rel­a­tiv ein­fach les- und auswert­bar, ohne dass Mitar­bei­t­erin­nen und Mitar­beit­er das mit­bekom­men kön­nten.

Umgekehrt ist es über­all die Asym­me­trie von Machtver­hält­nis­sen, die durch kod­i­fizierte Rechte aller und also auch der­er, die sich in der schwächeren Posi­tion befind­en, beschränkt wer­den soll. Rechte von Lohn­ab­hängi­gen oder Rechte von Kon­sumentin­nen und Kon­sumenten, Rechte eines Vertre­tung­sor­gans wie des Betriebs- oder Gemeinde- oder Nation­al­rats, Grun­drechte all­ge­mein von Bürg­erin­nen und Bürg­ern, Men­schen­rechte – es geht stets um Abwehrrechte gegenüber Macht­miss­brauch und um Teil­haberechte.

Das konkrete Beispiel aus der Arbeitswelt ist für unsere Frage deshalb von beson­derem Inter­esse, weil hier erstens aus den Men­schen­recht­en etwas zur Regelung des Inter­nets in einem Teil­bere­ich abgeleit­et wird und zweit­ens die Durch­set­zung dieser Rechte in geregel­ter Art und Weise oper­a­tional­isiert ist. Vor allem aber wird – drit­tens – aus den Grun­drecht­en jed­er und jedes einzel­nen das Recht auf Mit­sprache an der Regelung des Inter­nets abgeleit­et, oper­a­tional­isiert hier durch die starke Ver­hand­lungspo­si­tion der Kör­per­schaft Betrieb­srat. Dieser kann für den Gel­tungs­bere­ich Betrieb die grundle­gen­den Regeln mitbes­tim­men, wie das Inter­net, Zugang, Nutzung, Kon­trolle und so weit­er im Unternehmen geregelt sind. Und er kann jede Änderung dieser Regeln mitbes­tim­men.

Vere­in­facht kön­nen wir von diesem Beispiel aus der Arbeitswelt auf die generelle Ebene ver­all­ge­mein­ern: “das Inter­net” berührt sowohl als grundle­gende Infra­struk­tur als auch durch seine tech­nis­chen Eigen­heit­en per se mehrere Men­schen­rechte, weswe­gen Änderun­gen an Struk­tur, Regeln und Ver­wal­tung des Inter­net “durch uns” zus­tim­mungspflichtig sein müssten, da diese Änderun­gen wiederum automa­tisch in unsere Men­schen­rechte ein­greifen und unsere durch Per­sön­lichkeit­srechte mit­tel­bar geschützte Grun­drechtssphäre beein­trächti­gen kön­nen.

Der Umstand, dass das Inter­net als transna­tionale Infra­struk­tur nationale Gel­tungs­bere­iche unter­läuft, sollte eine weit­ere Moti­va­tion darstellen, den Anspruch auf Teil­haberechte am Inter­net auf der Ebene der Men­schen­rechte zu for­mulieren (siehe auch Kap. 3.6. Die Gren­zen der juris­tis­chen Ver­fol­gung von Has­srede im Inter­net: Ein Beispiel aus Ungarn von V. Szaba­dos). Nationale Par­la­mente sind nicht automa­tisch durch demokratis­che Wahlen legit­imiert, zu Neuregelun­gen des Inter­nets in unseren Namen zuzus­tim­men.

Für Teil­haberechte aller am Inter­net spricht außer­dem und nicht zulet­zt, dass wir das, was “das Inter­net” gegen­wär­tig ist, nicht der Leis­tung eines Unternehmens oder dem Staat ver­danken, von dem uns diese Infra­struk­tur zur Ver­fü­gung gestellt wird. Es ist wed­er das Pro­dukt ein­er Fir­ma. Noch ist es natür­liche Ressource oder nation­al­staatlich organ­isiertes öffentlich­es Gut. “Das Inter­net” geht vielmehr auf vielschichtige Prozesse gesellschaftlich­er Pro­duk­tion zurück als auf eine unternehmerische Leis­tung oder staatliche Organ­i­sa­tion. Die Forderung auf Zugang muss dem einzel­nen Staat gegenüber gestellt wer­den. Der Rang des Men­schen­rechts soll diesem Recht lediglich mehr Gewicht beimessen und alle Staat­en zwin­gen, dieses Recht auf Zugang zu schützen. Das kann der Staat auch sehr ein­fach, fällt die Reg­ulierung des Zugangs doch in seine Domäne. Ein Recht auf Teil­habe am Inter­net, auf gle­ich­berechtigte Mitbes­tim­mung bei der Regelung und Ver­wal­tung des transna­tionalen Inter­nets, das kann der einzelne Staat nicht ein­fach durch­set­zen. Umso mehr müsste dieses Recht als uni­verselles Men­schen­recht gefordert wer­den.

Das für jeden Menschen Wesentliche am Internet

Wenn das Men­schen­recht nicht am Zugang zu Inter­net fest­machen, woran aber dann? Wenn “das Inter­net” gesellschaftlich schw­er zu fassen und noch schwieriger in ein­er Def­i­n­i­tion zu begreifen ist, die den Meta­mor­pho­sen über Entwick­lungszeiträume hin gerecht würde, wie dann die Rechte for­mulieren, die wir alle nur auf­grund unseres Men­sch­seins haben? Für die Vere­in­ten Natio­nen for­muliert die UN-Son­der­berichter­stat­terin Fari­da Sha­heed, zitiert in ein­er Aussendung der Vere­in­ten Natio­nen am 18. Mai 2012,

Da das Inter­net im Wesentlichen eine glob­ale Ressource darstellt, muss eine angemessene Regelung und Ver­wal­tung des Inter­nets das Recht eines jeden Men­schen auf selb­st­bes­timmten Zugang zu Infor­ma­tion eben­so wie auf selb­ster­mächtigte Nutzung von Infor­ma­tion und Kom­mu­nika­tion­stech­nolo­gien unab­d­ing­bar unter­stützen.” ((eigene Über­set­zung aus der Pressemit­teilung der Vere­in­ten Natio­nen vom 18. Mai 2012: “Inter­net gov­er­nance must ensure access for every­one”))

Diese For­mulierung geht deut­lich über die Forderung eines Rechts lediglich auf Zugang hin­aus. Zugang und die Nutzung müssen selb­st­bes­timmt und selb­ster­mächtigt möglich sein. Gle­ichzeit­ig kann diese For­mulierung den Charak­ter eines Appells an die, die regeln und ver­wal­ten, nicht ver­ber­gen. Den Regel­nden und Ver­wal­tenden wird zwar eine all­ge­meine Schutzpflicht der Rechte eines jeden Men­schen zuge­sprochen, ohne dass die Legit­i­ma­tion dieser unbes­timmten Regel­nden und Ver­wal­tenden aber ange­sprochen oder Bedin­gun­gen unter­wor­fen wird.

Ich habe weit­er oben bere­its vorgeschla­gen, mehr, näm­lich gle­ich­berechtigte Mitbes­tim­mung und Teil­haberechte am Inter­net zu fordern. Dazu möchte ich eine Konkretisierung ver­suchen, welche Aspek­te “am Inter­net” für jeden Men­schen so wesentlich sind, dass es unser­er Zus­tim­mung und also Kon­trollmöglichkeit­en bedarf, wie es geregelt und ver­wal­tet wird. Bis­lang bin ich der Frage aus­gewichen, was das Inter­net sei. Ich habe es vielmehr samt vor­angestell­ten bes­timmten Artikel in Anführungsze­ichen geset­zt und als etwas schw­er zu Begreifend­es charak­ter­isiert, als etwas im Rang grundle­gen­der, obwohl in der Men­schheits­geschichte noch junger Infra­struk­tur, vielschichtig und kom­plex auf Gesellschaft wirk­end, während “es”, “das Inter­net”, gle­ichzeit­ig gesellschaftlich pro­duziert und durch wider­stre­i­t­ende gesellschaftliche Gestal­tungsansprüche laufend weit­er verän­dert wird.

Mit dieser unbes­timmten Benen­nung lässt sich freilich keine halt­bare For­mulierung eines sin­nvollen Recht­sanspruchs gewin­nen. Die Def­i­n­i­tion und Beschrei­bung im Wikipedia-Artikel “Inter­net” hil­ft auch nicht weit­er.

Ich schlage die Unter­schei­dung von (min­destens) vier Aspek­ten und Eigen­schaften vor, die meines Eracht­ens für die Frage der Men­schen­rechte rel­e­vant sind:

  1. Ver­mit­tels Inter­net wer­den Dat­en über­tra­gen, Infor­ma­tio­nen. Es ist Über­tra­gungsmedi­um.
  2. Im Inter­net wer­den Dat­en gesichert, Infor­ma­tio­nen archiviert. Es ist Spe­icher­medi­um.
  3. Mit­tels Inter­net kom­mu­nizieren Men­schen. Es ist Kom­mu­nika­tion­s­medi­um.
  4. Im Inter­net und via Inter­net wer­den Dien­ste, Plat­tfor­men und Organ­i­sa­tio­nen gebaut. Dien­ste um weit­ere Dien­ste, Organ­i­sa­tio­nen, Plat­tfor­men zu bauen. Plat­tfor­men um weit­ere Dien­ste, Plat­tfor­men und Organ­i­sa­tio­nen zu grün­den. Organ­i­sa­tio­nen um Dien­ste, Plat­tfor­men und Organ­i­sa­tio­nen zu organ­isieren. Es ist grundle­gende Ressource und Infra­struk­tur.

All diese Eigen­schaften würde ich als grundle­gende beze­ich­nen, die als solche in einem sich laufend wan­del­nden Inter­net erhal­ten bleiben. Aus diesem Grund schlage ich vor, mit der Forderung von Recht­en auf diese grundle­gen­den Eigen­schaften Bezug zu nehmen. Beziehungsweise müssen sie aus der Per­spek­tive der Men­schen­rechte erhal­ten wer­den, sind es doch die für jeden Men­schen wesentlichen Dimen­sio­nen. Eine Trans­for­ma­tion des Inter­nets zum Beispiel in die Rich­tung, die das selb­ster­mächtigte Bauen von Dien­sten, Organ­i­sa­tio­nen und Plat­tfor­men ein­schränken oder verun­möglichen würde, käme einem willkür­lichen Auss­chluss von grundle­gen­den Ressourcen und Infra­struk­tur gle­ich und ver­let­zten Rechte wie das auf Arbeit, auf Bil­dung, auf Teil­habe am kul­turellen Leben. Die prinzip­ielle Bevorzu­gung einzel­ner gegenüber ander­er bei der Über­tra­gung von Dat­en würde bespiel­sweise das Prinzip der Gle­ich­berech­ti­gung ver­let­zen (siehe dazu auch Kap. 3.2. Net­zneu­tral­ität. Das Inter­net im Span­nungs­feld von Pub­lic Ser­vice und Kom­merzial­isierung von T. Pel­li­gri­ni).

All diese Eigen­schaften betr­e­f­fen alle Men­schen. Für alle Eigen­schaften soll­ten die Prinzip­i­en der Men­schen­rechte gel­ten – Uni­ver­sal­ität, Egal­ität, Unteil­barkeit.

Und dabei ist der Gebrauch des Inter­nets durch die oder den Einzel­nen selb­st nicht notwendig, um in der eige­nen Men­schen­würde berührt zu wer­den. Ähn­lich dem Beispiel aus der Arbeitswelt gilt, dass wir alle per se berührt sind: weil unsere beziehungsweise uns betr­e­f­fende Dat­en über­tra­gen wer­den. Weil über uns Dat­en erfasst wer­den und gespe­ichert wer­den, Dat­en unsere Pri­vat­sphäre berühren und allzu ein­fach dazu einge­set­zt wer­den kön­nen, unsere Persönlichkeits‑, Frei­heits- und sozialen Men­schen­rechte zu ver­let­zen. Weil unsere Kom­mu­nika­tion gestört oder mitver­fol­gt oder ohne unsere Zus­tim­mung gespe­ichert wird. Weil unsere Ideen, Pro­duk­te, Geschicht­en und Geschichte gespe­ichert oder ver­drängt wer­den. Weil unsere Organ­i­sa­tion und Art uns zu organ­isieren aus­ge­gren­zt, ange­grif­f­en und krim­i­nal­isiert wird.
Weil unser aller Möglichkeit­en der Datenüber­tra­gung, des Spe­ich­erns, des Kom­mu­nizierens, des Arbeit­ens, der freien Bewe­gung und des uns frei Organ­isierens durch Möglichkeit­en staatlich­er Repres­sion und kap­i­tal­is­tis­ch­er Aus­beu­tung im Inter­net und ver­mit­tels Inter­net in einem Maße bedro­ht sind, dass wir alle – Men­schen qua unser­er Men­schen­würde heute und in Zukun­ft – mitbes­tim­men kön­nen müssen, wie “das Inter­net” ent­lang der grundle­gen­den Eigen­schaften (1) Über­tra­gungsmedi­um, (2) Spe­icher­medi­um, (3) Kom­mu­nika­tion­s­medi­um sowie (4) Ressource und Infra­struk­tur geregelt und ver­wal­tet wird.

Conclusio

In Abwand­lung des bekan­nten Prinzips “Öffentliche Dat­en nützen, pri­vate Dat­en schützen” würde ich Angesichts von Inter­net und Men­schen­recht­en für einen Zugang plädieren, der auf die Formel “Men­schen­würde schützen, Abwehrrechte zur Teil­habe nützen” gebracht wer­den kön­nte. Damit sei noch ein­mal zusam­menge­fasst Fol­gen­des gemeint:

Das Inter­net in sein­er gegen­wär­ti­gen Form ist in kom­plex­en und diversen Prozessen gesellschaftlich­er Pro­duk­tion ent­standen, die mehr als zwei Jahrzehnte überspan­nen und weit­er zurück­re­ichen. Mit der Emer­genz des sich laufend weit­er entwick­el­nden und bisweilen struk­turell wan­del­nden Inter­nets ist etwas Neues in die Men­schheits­geschichte getreten, dessen glob­ale his­torische Bedeu­tung für uns in der Gegen­wart noch kaum angemessen bemessen wer­den kann. Inter­net verän­dert unsere Gesellschaften. Die Pro­duk­tion und Repro­duk­tion “des Inter­nets” passiert weit­er­hin in kom­plex­en und diversen gesellschaftlichen Prozessen unter bre­itester Teil­habe, wird aber gle­ichzeit­ig immer mehr von Staat­sap­pa­rat­en und Kap­i­tal­in­ter­essen bes­timmt und einge­gren­zt.

Die emi­nente Bedeu­tung des Inter­nets macht es notwendi­ger Weise zum Objekt von Herrschaftsin­ter­essen, die “das Inter­net”, seine Funk­tio­nen, Eigen­schaften und weitre­ichen­den Auswirkun­gen reg­ulieren und beherrschen wollen (beziehungsweise aus der Per­spek­tive der Herrschaft: müssen). In diesem Umfeld gilt es, die gesellschaftliche Teil­habe am Inter­net, an der Pro­duk­tion und laufend­en Repro­duk­tion des Inter­nets abzu­sich­ern. Vor diesem Hin­ter­grund gilt es, die Rechte jed­er und jedes Einzel­nen im Angesicht des Inter­nets und der Rechte am Inter­net zu schützen.

Dem Inter­net wohnt gle­icher­maßen großes emanzi­pa­torisches wie repres­sives Poten­tial inne. Im Angesicht der Kom­plex­ität dessen, was das Inter­net ist und mit Bedacht darauf, dass sich das was es ist ändern und soweit geän­dert wer­den kann, dass es zu etwas im Grunde anderem trans­formiert würde, plädiere ich für das Men­schen­recht am Inter­net.
Diese Forderung hat notge­drun­gen eine klar glob­ale und his­torische Per­spek­tive.

Ein Men­schen­recht am Inter­net darf nicht am Zugang zum Inter­net allein fest­gemacht wer­den. Alle Men­schen haben das Recht auf selb­ster­mächti­gen­den Zugang zu Datenüber­tra­gung und ein Recht darauf, dass ihre Dat­en sich­er über­tra­gen wer­den. Alle Men­schen haben das Recht auf selb­ster­mächti­gen­den Zugang zu Daten­spe­icherung. Alle Men­schen haben das Recht auf selb­ster­mächti­gen­den und sichere Kom­mu­nika­tion ver­mit­tels Inter­net. Alle Men­schen haben das Recht, die Ressource und die Infra­struk­tur “Inter­net” zu nutzen, um im und mit dem Inter­net selb­ster­mächtigt etwas zu pro­duzieren.

Ein Men­schen­recht am Inter­net muss die für alle Men­schen wesentlichen Eigen­schaften der Datenüber­tra­gung, des Spe­ich­erns, der Kom­mu­nika­tion und als Ressource und Infra­struk­tur benen­nen und über den Zugang hin­aus das Recht auf Mitbes­tim­mung an Struk­tur, Regeln und Ver­wal­tung für alle diese Eigen­schaften fes­thal­ten. Auf Basis ein­er solchen Grund­for­mulierung soll­ten Ableitun­gen für konkrete Umsetzungs‑, Bemes­sungs- und Entschei­dungs­fra­gen sowie die Über­set­zung in konkrete transna­tionale wie nationale Richtlin­ien, Geset­zes­texte, Verord­nun­gen und Verträge ein­deutig oper­a­tional­isier­bar sein. Und ein­deutig meint hier, so dass in konkreten Fällen schnell klar ist, ob etwas dem Recht aller Men­schen am Inter­net gerecht wird oder nicht.

 

 

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Am Platz hat himmlischer Friede zu herrschen

Bilder von kommenden Aufständen

Ein neues Gespenst geht um in Europa, aber es ist nicht das des Kom­mu­nis­mus. Es hat bis­lang keinen Namen. Es ist noch nicht ein­mal ein ‑ismus, aber dafür existieren zahlre­iche Bilder, die als Erscheinen und Umge­hen des Gespen­sts inter­pretiert wer­den. Alleine 2011 sind unzäh­lige Fotografien und Video­bilder in Print‑, audio­vi­suellen und elek­tro­n­is­chen Medi­en hinzugekom­men. Die Bilder zeigen von protestieren­den Men­schen beset­zte Plätze in europäis­chen Metropolen. Dieser Fülle an Bildern (pic­tures) ste­ht ent­ge­gen, dass das Bild (image), das wir uns vom Gespenst machen, noch etwas schemen­haftes, flüchtiges hat.

Im Vor­feld des 15. Mai 2011 ent­standen, ver­bre­it­et sich dieses knappe Man­i­fest schnell via Inter­net und strahlt bis heute weit über die Gren­zen Spaniens hin­aus aus. Auf democraciarealya.es ist es in mehreren Sprachen nachzule­sen.

Es gibt Man­i­feste, die disku­tiert wer­den. Neben den Tex­ten des Unsicht­baren Komi­tees: Der kom­mende Auf­s­tand, Ham­burg 2010 [frz. Orig. 2007] und Stéphane Hes­sels: «Empört Euch!», Berlin 2011 [frz. Orig. 2010] sei hier auf das «Man­i­fiesto — ¡Democ­ra­cia Real YA!» der spanis­chen Indig­na­dos-Bewe­gung ver­wiesen, die ihren Namen von Hes­sels Aufruf ableit­et.
Was es nicht gibt, sind außer Stre­it ste­hende Vor­denkerIn­nen, die die Erschei­n­un­gen des neuen Gespen­sts so schlüs­sig zu erk­lären im Stande wären, dass wir von einem klaren Bild sein­er Gestalt, Entste­hung, Reich­weite, Macht und Lebens­dauer aus­ge­hen kön­nten.

Aus der Per­spek­tive gegen­wär­tiger Zeit­geschichte ist nicht auszuschließen, dass das, was heute als Gespenst erscheint, ex post nur als Phan­tas­ma bew­ertet wird. Davon wäre zu sprechen, wenn die aktuell im paneu­ropäis­chen kom­mu­nika­tiv­en Gedächt­nis ver­ankerten Begriffe «Syn­tag­ma», «S21», «indig­na­dos», «occu­py» etc. ihre zen­trale Posi­tion ver­lieren wür­den, ohne nach­haltig in das kul­turelle Gedächt­nis Europas eingear­beit­et zu wer­den. ((Für die Unter­schei­dung zwis­chen kom­mu­nika­tivem und kul­turellem Gedächt­nis siehe Jan Ass­mann: «Das kul­turelle Gedächt­nis. Schrift, Erin­nerung und poli­tis­che Iden­tität in frühen Hochkul­turen», München 1992)) In der his­torischen Bew­er­tung hät­ten wir es dann mit der Verdich­tung eines all­ge­meineren Phänomens zu tun gehabt, das mit Judith But­ler nüchtern beschreib­bar wäre als:

In the last months there have been, time and again, mass demon­stra­tions on the street, in the square, and though these are very often moti­vat­ed by dif­fer­ent polit­i­cal pur­pos­es, some­thing sim­i­lar hap­pens: bod­ies con­gre­gate, they move and speak togeth­er, and they lay claim to a cer­tain space as pub­lic space. Now, it would be eas­i­er to say that these demon­stra­tions or, indeed, these move­ments, are char­ac­ter­ized by bod­ies that come togeth­er to make a claim in pub­lic space, but that for­mu­la­tion pre­sumes that pub­lic space is giv­en, that it is already pub­lic, and rec­og­nized as such.“ ((Judith But­ler: Bod­ies in Alliance and the Pol­i­tics of the Street. In: Trans­ver­sal / EIPCP mul­ti­lin­gual web­jour­nal, 09, 2011))

Was ist es, das dieses Zusam­menkom­men von Kör­pern in der Wahrnehmung viel­er zum Umge­hen oder dem Phan­tas­ma eines neuen Gespen­sts macht? Wie ver­hal­ten sich die Kör­p­er, wie nutzen sie Raum, dass von diesem Ver­hal­ten auf die Emer­genz ein­er “neuen Protest­be­we­gung” geschlossen wird?

Für Prog­nosen und Bew­er­tun­gen der länger­fristi­gen und über­re­gionalen Bedeu­tung ist es zu früh, erst recht für die Einord­nung der Wirkung der Proteste in europäis­chen Innen­städten. Gegen­wär­tig ist festzuhal­ten: Sie wer­den als neuar­tig wahrgenom­men. Die lokalen Protest­be­we­gun­gen sind nicht als isolierte Phänomene einzel­ner Staat­en und Städte erk­lär­bar.

Zu Prak­tiken der Bewe­gun­gen zählen Block­aden und Beset­zun­gen von Verkauf­s­räu­men jen­er Konz­erne und Banken, die von der Regierung weitre­ichende Steuer­erle­ichterun­gen oder Hil­f­s­pakete bekom­men haben.

Nicht nur zen­trale urbane Plätze, son­dern immer neue Räume wer­den zu Schau­plätzen von Beset­zun­gen, die tem­porär alter­na­tive Nutzun­gen erzwin­gen und für die Dauer der Inbe­sitz­nahme zu Räu­men offen­er und öffentlich­er Ver­samm­lun­gen wer­den. Beispiel­haft dafür sind die Beset­zun­gen von Bank­fil­ialien durch die UK-Uncut-Bewe­gung. «UK Uncut» ste­ht für die seit dem Herb­st 2010 in Großbri­tan­nien aktive Protest­be­we­gung gegen die Steuer­erle­ichterun­gen für Reiche und Konz­erne sowie gegen Kürzun­gen des Staates im Sozial­bere­ich.

besetzte Bankfiliale in Cambridge am 26.2.2011
Abb. 1: Im Früh­jahr 2011 kommt es in ganz Großbri­tan­nien zu spon­ta­nen tem­porären Beset­zun­gen vor­wiegend von Bank­fil­ialien. Verkauf­s­räume wer­den für die Dauer der Beset­zun­gen, die via Flash­mobs ini­ti­iert wer­den, zu öffentlich zugänglichen Bib­lio­theken, Kindergärten und Schulk­lassen.

In einem glob­alen Lern­prozess wer­den Protest­prax­en, Tech­niken, Analy­sen, Ide­olo­gien und Bild­sprachen entwick­elt und weit­er gegeben. Inter­net, Social-Media-Plat­tfor­men, Smart­phones und neue For­men der Selb­stor­gan­i­sa­tion spie­len eine gewichtige Rolle neben bekan­nten Fak­toren wie sozialer Ungle­ich­heit, ökonomis­chen Bedin­gun­gen, poli­tis­ch­er Repres­sion.

Dem gegenüber ste­ht die Aufrüs­tung der staatlichen und kom­mu­nalen Sicher­heits- und Überwachungsap­pa­rate, die im gle­icher­maßen glob­alen Lern­prozess Know-how im Umgang mit den neuen Protest­be­we­gun­gen sam­meln. All diese Fak­toren wer­den in den Fol­ge­jahren des ereignis­re­ichen Jahres 2011 rel­e­vant bleiben oder rel­e­van­ter wer­den. Als Indika­toren für die Wahrschein­lichkeit kom­mender Auf­stände sprechen sie für die Prog­nose, dass zen­trale Plätze — und immer wieder neue Räume — auch weit­er­hin Schau­plätze neuer Proteste in west­lichen Metropolen sein wer­den.

Anonymous bei Stop the Slaughter in Palestine Demo
Abb 2: Das Foto stammt von ein­er «Stop the Slaugh­ter in Pales­tine»-Demo am 10. Jän­ner 2009 am Rande des Lon­don­er Hyde Park und hat organ­isatorisch oder poli­tisch mit „Anony­mous“ nichts zu tun. Die Form des Bildes mit Rah­men und Beschrif­tung ist die des “Moti­va­tion­als” und es han­delt sich um eine für diesen Text pro­duzierte Nach­bil­dung eines “Moti­va­tion­als” unter Ver­wen­dung eines Auss­chnitts des Bilds «Stop the Slaugh­ter in Pales­tine Demo- Anony­mous» von Loz Pycock (aufgenom­men am 10.1.2009 in Lon­don). Moti­va­tion­al-Poster wer­den online via Gen­er­a­tor-Web­sites erstellt und auf Image­boards wie 4chan, via Social Net­works Plat­tfor­men und Blogs ver­bre­it­et. Sie ste­hen für die virale Ver­bre­itung von Bildern nach dem Modus der Social Media. Sie sind Aus­druck ein­er demokratis­chen Aneig­nung der Bilder und ihrer Kon­tex­tu­al­isierung.

Die Zeichnung des Gespensts der wütenden BürgerInnen

Neben den Bildern von Protestieren­den und beset­zten Räu­men dominiert ein Bild die Wahrnehmung der neuen Protest­be­we­gun­gen. Feuil­leton und Medi­en im deutschsprachi­gen Raum geben dem Gespenst mit berech­nen­der Vor­liebe den Namen Wut­bürg­er. In der Regel im Sin­gu­lar, männlich. Der Erfind­er dieses Images, der Jour­nal­ist Dirk Kur­b­juweit, leit­et 2010 seinen gle­ich­nami­gen Essay im Nachricht­en­magazin Spiegel mit dem Satz ein:

Eine neue Gestalt macht sich wichtig in der deutschen Gesellschaft: Das ist der Wut­bürg­er.“ ((Dirk Kur­b­juweit: Der Wut­bürg­er. In: Der Spiegel, 2010, Nr. 41, S. 26))

Die Schmäh­schrift zeich­net einen alten bürg­er­lichen, mit «Hass» erfüll­ten, von «nack­ter Wut getriebe­nen» Mann, der sich «laut brül­lend» zu Wort meldet und «momen­tan alles dominiert». Orte, an denen dieser Wut­bürg­er auftritt, um «momen­tan alles zu dominieren», nen­nt der Essay drei und diese nur beiläu­fig: Demon­stra­tio­nen am Bauza­un in Stuttgart, die Münch­n­er Rei­thalle anlässlich ein­er Ver­anstal­tung mit Thi­lo Sar­razin und das Inter­net. Die Menge der Men­schen, die Kör­p­er im öffentlichen Raum, ihre Verteilung, ihr Zusam­men­spiel und ihre Bewe­gun­gen kom­men in der Beschrei­bung des neuen Phänomens nicht vor.

Abb. 3: Polizeieinsatz am Schwarze Donnerstag in Stuttgart
Abb. 3: Polizeiein­satz am «Schwarze Don­ner­stag» mit Pfef­fer­spray. Das tak­tis­che Medi­um fluegel.tv doku­men­tiert die Vorgänge per Live-Streams und mit der Samm­lung von online zur Ver­fü­gung gestell­ten Fotos.

In den Wochen vor dem Erscheinen des Essays am 11. Okto­ber 2010 sind es regelmäßig Zehn­tausende, die in der rund 600.000 Ein­wohner­In­nen zäh­len­den Stadt Stuttgart Straßen und Plätze für sich ein­nehmen. Die Vor­fälle des 30. Sep­tem­ber 2010 im Stuttgarter Schloß­garten gehen als «Schwarz­er Don­ner­stag» in die bun­des­deutsche Geschichte ein und machen Stuttgart zum Medi­en­großereig­nis. Das Foto eines durch­nässten älteren Her­ren, der von zwei anderen Män­nern gestützt wird, während Blut aus bei­den zugeschwol­lenen Augen rin­nt, ist in den Medi­en zu sehen und wird über­re­gion­al zum Sym­bol sowohl für die Protest­be­we­gung als auch für die Reak­tion von Seit­en der Staats­ge­walt.

In den Tagen danach, den unmit­tel­baren Tagen vor dem Erscheinen des Artikels in der Zeitschrift, sprechen die Ver­anstal­terIn­nen bei zwei Kundge­bun­gen vor über Hun­dert­tausend Protestieren­den. Es ist nicht abse­hbar, wie viele es noch wer­den kön­nen. Die Menge der Protestieren­den nimmt ten­den­ziell zu, obwohl die Proteste seit Monat­en andauern und die Beteili­gung alle Erwartun­gen über­trifft. Das Phänomen entzieht sich der Berechen­barkeit. Die Protest­be­we­gung fordert als unberechen­bares Phänomen umso mehr Aufmerk­samkeit ein, je länger die Menge der Per­so­n­en, die sich den Protesten im öffentlichen Raum anschließen, sukzes­sive zunimmt. Während der repres­sive Staat­sap­pa­rat mit seinen Mit­teln reagiert, kon­stru­iert der ide­ol­o­gis­che Staat­sap­pa­rat dif­famierende Images der Protestieren­den und Lesarten der Proteste.

Das Bild spontaner offener Versammlungen, «wo vorher nichts war»

Ein Jahr vor den Höhep­unk­ten der Stuttgarter Protest­be­we­gung bietet das Phänomen der Studieren­den­be­we­gung #uni­bren­nt ein ähn­lich­es Bild. Fünf Wochen lang nimmt die Zahl der beset­zten Hörsäle zu, bis aus­ge­hend von der Uni Wien der gesamte deutschsprachige Raum erfasst ist.

Das Bil­darchiv der #uni­bren­nt-Bewe­gung ist bis heute, das der S21 Protest­be­we­gung via fluegel.tv abruf­bar.

An den Protest­be­we­gun­gen von #uni­bren­nt und von Stuttgart lässt sich exem­plar­isch analysieren, wie neue Bewe­gun­gen ihre eige­nen tak­tis­chen Medi­en auf­bauen, das Bil­darchiv selb­st ver­wal­ten, damit die Bilder­ho­heit gegenüber den klas­sis­chen Medi­en haben und so zu bedeu­ten­den Stand­beinen der Bewe­gung wer­den.

Im Spätherb­st 2010 bre­it­et sich eine Protest­welle mit Großdemon­stra­tio­nen und Beset­zun­gen von Ver­wal­tungs­ge­bäu­den in Großbri­tan­nien aus. Nach dem 15. Mai 2011 ist in Spanien wochen­lang unab­se­hbar, welch­es Aus­maß die Bewe­gung der Indig­na­dos erre­ichen wird. In Eng­land ist mehrere Tage nach dem Aus­bruch der Krawalle in Tot­ten­ham am 6. August 2011 unklar, wie weit sich die Unruhen aus­bre­it­en wer­den. In Griechen­land kommt es bere­its seit Ende 2008 mehrfach zu schw­eren, mehrwöchi­gen Auss­chre­itun­gen, die von Athen aus auf weit­ere Städte über­greifen. Zeitweise wer­den 600 Schulen und einige Uni­ver­sitäten, 2010 wieder­holt Min­is­te­rien beset­zt.

Bei­de Phänome haben es über die Aufmerk­samkeitss­chwelle der Massen­me­di­en geschafft, für den «Riot Dog» existieren gar Wikipedia-Ein­träge.

Sowohl die Lon­don Riots als auch die Unruhen in Griechen­land wur­den von zwei pop­ulären Inter­net­phänomen begleit­et, dem Athen­er «Riot Dog» mit eigen­er Face­book-Seite, Blogs und Youtube-Clips seit 2008 sowie dem «Pho­to­shoploot­er»-Meme während der Unruhen in Eng­land. Die Phänomene sind in ihrer Struk­tur typ­isch für die viral selb­stor­gan­isierte, iro­nis­che Aneig­nung von Bildern und Nachricht­en. Dabei wer­den Bild­ma­te­ri­alien aus allen über das Inter­net zugänglichen Quellen bear­beit­et oder neu kon­tex­tu­al­isiert. Bilder wer­den über ver­schiedene Social-Media-Plat­tfor­men verteilt und neu kon­fig­uri­ert weit­er gegeben.

Alle diese Rebel­lio­nen erin­nern – wie die Ereignisse am Tahrir in den Tagen nach dem 25. Jan­u­ar 2011, im Capi­tol von Madi­son in Wis­con­sin in den Tagen nach dem 15. Feb­ru­ar 2011 oder bei Occu­py-Wall­street (#ows) in den Tagen nach dem 17. Sep­tem­ber 2011 – an Elias Canet­ti Schrift Masse und Macht:

Eine eben­so rät­sel­hafte wie uni­ver­sale Erschei­n­ung ist die Masse, die plöt­zlich da ist, wo vorher nichts war. [..] Es ist eine Entschlossen­heit in ihrer Bewe­gung, die sich vom Aus­druck gewöhn­lich­er Neugi­er sehr wohl unter­schei­det. Die Bewe­gung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefun­den haben.“ ((Elias Canet­ti: Masse und Macht [1960], Frank­furt am Main 1980, S. 14 u. 15))

Die so beschriebene Dynamik set­zt voraus, dass das Ziel nicht von vorn­here­in fest­ste­ht und dass es sich nicht um eine Ver­samm­lung von Men­schen han­delt, die Canet­ti als geschlossene Masse im Gegen­satz zur offe­nen Masse beze­ich­net. Ein gemein­sames Charak­ter­is­tikum jed­er Ver­samm­lun­gen von Men­schen der neuen Protest­be­we­gun­gen ist denn auch, dass sie offen und geduldig sind.

Abb. 4: Asamblea, Puerta del Sol, Madrid
Abb. 4: Die Asam­blea, hier am beset­zten Puer­ta del Sol in Madrid, ist für den Zus­trom weit­er­er Men­schen und die Teil­habe an der Diskus­sion der gemein­samen Angele­gen­heit­en offen. Die Offen­heit äußert sich auch in der Abwe­sen­heit der Sym­bole, Far­ben und «Uni­for­men» insti­tu­tion­al­isiert­er poli­tis­ch­er Organ­i­sa­tio­nen.

Die Ver­samm­lun­gen set­zen auf das Zusam­men­strö­men von Men­schen und auf die Prozesse, die dadurch evoziert wer­den: die von den vor Ort Anwe­senden selb­stor­gan­isierte Diskus­sion über ihre gemein­samen Angele­gen­heit­en und Anliegen.

For pol­i­tics to take place, the body must appear. I appear to oth­ers, and they appear to me, which means that some space between us allows each to appear. We are not sim­ply visu­al phe­nom­e­na for each oth­er – our voic­es must be reg­is­tered, and so we must be heard.“ ((Judith But­ler: Bod­ies in Alliance and the Pol­i­tics of the Street. In: Trans­ver­sal / EIPCP mul­ti­lin­gual web­jour­nal, 09, 2011))

Die Kör­p­er sind zudem die Bedin­gung für die Bilder. Die Bilder der inter­ve­nieren­den, sich Raum nehmenden Kör­p­er machen evi­dent, dass hier außergewöhn­lich­es passiert. Im dig­i­tal­en Zeital­ter erstreckt sich diese Sicht­barkeit auf das Inter­net. Bei der Ver­bre­itung der Bilder sind mehrere Kanäle sin­nvoll zu dif­feren­zieren:

  1. pro­fes­sionelle Bilder aus Print und Fernse­hen in Online-Medi­en,
  2. Weit­er­leitung und Rekon­tex­tu­al­isierung dieser Bilder aus pro­fes­sioneller Pro­duk­tion via Social Media,
  3. Ama­teur­bilder,
  4. Bilder von tak­tis­chen, in die Proteste einge­bet­ten Medi­en,
  5. Bilder, die vom pro­fes­sionellen Medi­en­sys­tem aufge­grif­f­en wer­den, weil sie in den Social Media des Inter­nets zu ein­er Sto­ry wer­den,
  6. Plat­tfor­men, die dem Spiel mit Bildern dienen und von denen sich virale Bilder­se­rien und ‑the­men in andere Kanäle ein­speisen.

Die Asam­blea, die Ver­samm­lung, ist ein kon­sti­tu­ieren­des Ele­ment, eben­so wie die Bedin­gung ihrer selb­stor­gan­isierten, basis­demokratis­chen Organ­i­sa­tion; Men­schen, die sich im gle­ichen Raum auf einan­der beziehen und den Prozess ein­er gemein­samen Debat­te begin­nen. Dieses Ele­ment ver­weist nicht nur auf anar­chis­tis­che und basis­demokratis­che Tra­di­tio­nen der neuen Bewe­gun­gen, son­dern im gle­ichen Maße auf in Onlinekom­mu­nika­tion gelebte Prax­en und die Net­zkul­tur. Der Prozess, was in und mit Ver­samm­lun­gen passiert, wie lange sie andauern, obliegt der laufend­en, selb­stor­gan­isierten Ausver­hand­lung der Anwe­senden. Die Kör­p­er, die sich im Zuge der aktuellen Protest­be­we­gun­gen zur gemein­samen Ver­samm­lung zusam­men find­en, machen zudem sicht­bar und vor Ort spür­bar, dass sie bleiben, dass dem begonnene Ver­samm­lung­sprozess und der Debat­te keine Ablauf­frist geset­zt wird. Damit bleibt offen, wie groß die Ver­samm­lun­gen und Massen wer­den.

Dass eine Gruppe mit ihren Kör­pern eine Ver­samm­lung im öffentlich zugänglichen Raum begin­nt, ist, eben­so wie die Offen­heit der Ver­samm­lung, nicht nur Ein­ladung zur Teil­habe, son­dern Bedin­gung für die Möglichkeit, dass eine kri­tis­che Masse zusam­men find­en kann, die Sog­wirkung entwick­elt. Eine weit­ere Bedin­gung beschreibt Canet­ti in sein­er Auto­bi­ografie:

Ich las im Kaf­fee­haus in Ober-St. Veit die Mor­gen­zeitung. Ich spüre noch die Empörung, die mich überkam, als ich die ‚Reich­spost’ in die Hand nahm; da stand als riesige Über­schrift: ‚Ein gerecht­es Urteil’“. Im Bur­gen­land war geschossen, Arbeit­er waren getötet wor­den. Das Gericht hat­te die Mörder freige­sprochen. […] Aus allen Bezirken Wiens zogen die Arbeit­er in geschlosse­nen Zügen vor den Jus­tiz­palast, der durch seinen bloßen Namen das Unrecht verkör­perte.“ ((Elias Canet­ti: Die Fack­el im Ohr. Lebens­geschichte 1921-193, München/Wien 1980))

Die Empörung, von der Canet­ti schreibt, ist heute der verbindende Name der Indig­na­dos-Bewe­gung.

Rückkehr der Verbotsmasse als politische Kraft

Trotz allen zahlen­mäßig großen Aktion­sta­gen der neuen Protest­be­we­gun­gen erscheint die Anzahl der Protestieren­den auf den diversen Schau­plätzen nicht außergewöhn­lich hoch. Das Phänomen der Masse ist nicht nur nicht neu, große Massen sind in unser­er europäis­chen Gesellschaft seit den 1930er-Jahren nicht mehr ver­schwun­den. Die Fasz­i­na­tion des neuen hat­te sie im fin de siè­cle als Gus­tave Le Bons «Die Psy­cholo­gie der Massen» 1895 erschien und noch in den ersten bei­den Jahrzehn­ten des 20. Jahrhun­derts. Heute kom­men bei Sportver­anstal­tun­gen, einem Karneval, der Love-Parade oder anderen Großver­anstal­tun­gen hun­dert­tausende und Mil­lio­nen Men­schen zusam­men.

Auch bei poli­tis­chen Großkundge­bun­gen gibt es immer wieder hun­dert­tausende Teil­nehmerIn­nen. Über Großdemon­stra­tio­nen des Europäis­chen Gew­erkschafts­bunds mit 300.000 Teil­nehmerIn­nen wird den­noch medi­al kaum berichtet. Die Bilder wirken bekan­nt, beliebig und aus­tauschbar: Die geord­nete Großdemon­stra­tion ist kein über­raschen­des Phänomen und ruft kaum Reak­tio­nen der staatlichen Repres­sions- oder Ide­olo­gieap­pa­rate her­vor. Der Demon­stra­tionszug find­et im rit­u­al­isierten, durch die Kon­ven­tion bes­timmten Rah­men statt: angemeldet und mit vorstruk­turi­ertem Zeit- und Ablauf­plan, wie ein Event der Freizeitin­dus­trie mit Ord­nern, Uni­for­men, Fan­abze­ichen, klar begren­zt und abgren­zend. Die Macht­demon­stra­tion ist ein­schätzbar. Es ist nicht nur erwart­bar, welche Räume genutzt wer­den, son­dern wann der Demon­stra­tionsauflauf abge­zo­gen ist, ohne Spuren zu hin­ter­lassen. An dieser Stelle sei erneut auf But­ler ver­wiesen:

We miss some­thing of the point of pub­lic demon­stra­tions, if we fail to see that the very pub­lic char­ac­ter of the space is being dis­put­ed and even fought over when these crowds gath­er.“

Wenn wir diesen Punkt sehen, soll­ten wir die daran anschließende Frage eben­falls nicht überse­hen. Wie weit geht in konkreten Fällen das Infragestellen, was wird nicht als strit­tig the­ma­tisiert, welche Vorstel­lun­gen und Kon­ven­tio­nen wer­den auch im Stre­it­fall repro­duziert?

Verge­gen­wär­ti­gen wir uns übliche, gewohnte, ergo rit­u­al­isierte Nutzun­gen zum Beispiel des Puer­ta del Sol in Madrid, so erscheinen fol­gende Bilder leicht vorstell­bar: Der Platz leer. Der Platz bevölk­ert von strö­menden TouristIn­nen oder Kon­sumentIn­nen. Der Platz tem­porär ges­per­rt und mit Feiern­den befüllt – etwa im Zuge eines Stadt­fests. Der Platz durch Wahlkampfwer­bung vere­in­nahmt, durch Bühne und Pub­likum beset­zt. Oder der Platz als Begeg­nungsraum und Bühne für all diese Nutzun­gen nebeneinan­der: TouristIn­nen, kon­sum­ierende Men­schen, eine Kundge­bung abhal­tende Men­schen und Ord­nungskräfte. Diese Nutzungs­for­men sind bekan­nt, find­en nach ausver­han­del­ten Regeln statt und passen sich als nicht störend in unsere Wahrnehmung der Stadt wie in die Medi­en­berichter­stat­tung ein. Wenn beim Karneval oder der Sieges­feier nach dem Sport­großereig­nis außer­halb dieser Rit­uale gel­tende Regeln ver­let­zt wer­den, sind das im Rah­men des Festes keine Regelver­let­zun­gen.

Die Nutzung von Plätzen und Raum durch die neuen Protest­be­we­gun­gen ver­läuft anders. Ablauf und Dauer der Ver­samm­lun­gen sind offen. Sie wer­den als neu und frem­dar­tig wahrgenom­men. Die men­schlichen Kör­p­er und Ein­rich­tung­steile wie Zelte drück­en aus, dass sich hier Men­schen Raum über die erwart­bare, kon­ven­tionelle Nutzung hin­aus nehmen. Sie ver­hal­ten sich nicht als Pas­san­tInnen oder TouristIn­nen son­dern nehmen den Platz in Besitz und ver­let­zen bewusst die herrschen­den Kon­ven­tio­nen. In der Sys­tem­atik Canet­tis sind die Asam­bleas der Indig­na­dos und der Ver­samm­lun­gen der Occu­py-Bewe­gung Ver­bots­massen. «Alle weigern sich zu tun, was eine äußere Welt von ihnen erwartet.» ((Elias Canet­ti: Masse und Macht [1960], Frank­furt am Main 1980, S. 14 u. 15))
Die Präsenz dieser sich unkon­ven­tionell ver­hal­tenden Kör­p­er macht die in Stre­it gestell­ten Kon­ven­tio­nen sicht­bar, wodurch sie gle­ichzeit­ig the­ma­tisiert wer­den. Das «Hand­buch der Kom­mu­nika­tion­s­gueril­la» beschreibt das nicht nur als ver­frem­den­des Spiel und als Ver­let­zung der kul­turellen Gram­matik, son­dern nen­nt solche Inter­ven­tio­nen eine Tech­nik im Arse­nal poli­tis­ch­er Hand­lung­sop­tio­nen. Durch die Anwen­dung dieser Tech­nik in ver­schiede­nen Städten und die Wieder­hol­ung über Tage, Wochen und Monate hin­aus, wird aus der Ver­let­zung der Kon­ven­tion selb­st eine neue Kon­ven­tion.

Abb. 5: Occupy Frankfurt vor der EZB
Abb. 5: Occu­py Frank­furt, das seit 15. Okto­ber 2011 ständig beset­zte Zelt­dorf im Angesicht der Europäis­chen Zen­tral­bank und der Glastürme der großen Finanzkonz­erne.

Eine Demokratisierung der Plätze

Ist die Ver­samm­lung dadurch etabliert, dass Kör­p­er einen zen­tralen Raum in Besitz nehmen, verbleiben die Men­schen auf dem Platz, über­nacht­en dort und bauen ihre autonome Infra­struk­tur auf. Die Präsenz der in All­t­agsrou­ti­nen inter­agieren­den Kör­p­er illus­tri­ert, dass diese momen­tan Anwe­senden die Regeln für diesen Gel­tungs-Raum bes­tim­men; sicht­bar in ihrem disku­tieren, kochen, essen, Vor­räte ver­wal­ten, Inter­views führen, Trans­par­ente fer­ti­gen, Bilder machen, in Medien­zen­tren ein- und aus­ge­hende Kom­mu­nika­tion organ­isieren, Müll ent­fer­nen, Ple­na abhal­ten und Beschlüsse fassen.
Die Gemeinde des Platzes (dēmos), bietet kaum das Bild eines Mobs, aber auch nicht das Bild ein­er ein­fachen, homo­ge­nen Masse. Die AktivistIn­nen organ­isieren das Gemein­we­sen eines Platzes, dif­feren­zieren arbeit­steilig Funk­tions­bere­iche aus. Es herrscht im wörtlichen Sinne Demokratie, nicht die abstrak­te repräsen­ta­tive Demokratie mit nation­al­staatlichem Gel­tungs­bere­ich, son­dern vor Ort konkrete Demokratie in einem klar begren­zten Gel­tungs­bere­ich.

Da die Bedürfnisse und Funk­tio­nen der wach­senden Gemeinde erfüllt und von der Bevölkerung des Platzes organ­isiert wer­den, bilden sich Gemein­we­sen, kleine (Zelt-)Städte in den Städten aus. Der Raum ist gegliedert in Funk­tion­sräume für Schlaf, Rück­zug, medi­zinis­che Ver­sorgung und Lager. Im Zen­trum liegen die Räume für die Ple­na, das Forum für die basis­demokratis­che Debat­te der öffentlichen Angele­gen­heit­en. Daneben existieren Begeg­nungsräume für dis­tanziert­ere, beobach­t­ende Par­tizipa­tion an den Debat­ten, Anlauf­stellen für die Infor­ma­tionsverteilung am Platz, Kom­mu­nika­tions- und Medien­zen­tren mit eigen­er tech­nis­ch­er Infra­struk­tur, eige­nen Medi­en­ak­tivistIn­nen und eigen­er Pressear­beit sowie Rück­zugsräume für Bil­dungsak­tiv­itäten, Work­shops, Besprechun­gen, die Ausar­beitung. Der­art selb­stor­gan­isierte Plätze inmit­ten zen­tral gele­gen­er öffentlich­er Räume, sind ein Labor dis­si­den­ter Selb­stor­gan­i­sa­tion als Stät­ten, auf denen Wider­stand als alltägliche Prax­is demon­stri­ert wird.

Das wichtig­ste ist Kom­mu­nika­tion. Die län­gere Beset­zung der Plätze dient mehr der Debat­te, der prinzip­iellen Diskus­sion gemein­samer Angele­gen­heit, als der Kundge­bung. Von den beset­zten Plätzen wie von umkämpften Räu­men ist immer wieder zu hören, dass es den AktivistIn­nen nicht darum geht, mit dem einen oder anderen Anliegen gehört zu wer­den.
Ziel der Protest­be­we­gun­gen ist so gut wie nie, in Ver­hand­lun­gen mit poli­tis­chen Entschei­dungsträgerIn­nen zu kom­men. In den Ver­samm­lun­gen wird mit Poli­tik selb­st exper­i­men­tiert und von Beginn an ein expliz­it ander­er Poli­tik­be­griff in den Mit­telpunkt gestellt. Im Zen­trum dieses Begriffs ste­ht die gemein­same, inklu­sive und offene Debat­te im öffentlichen Raum. Die Ver­samm­lun­gen, die in Besitz genomme­nen selb­stver­wal­teten Plätze, die selb­stor­gan­isierten alter­na­tiv­en Nutzun­gen der Räume sind radikale Gege­nen­twürfe. Die Beset­zerIn­nen wen­den sich nicht an das poli­tis­che Sys­tem, son­dern wen­den sich vom poli­tis­chen Sys­tem ab.

AktivistInnen von #ows in New York
Ein «Free Speech Zone» Schild bei #occu­py Wall­street. Da den AktivistIn­nen in New York die Nutzung von Mega­fo­nen unter­sagt wurde, wer­den Wort­mel­dun­gen ein­er Per­son von den Umste­hen­den laut im Chor Satz für Satz wieder­holt, damit die poli­tis­che Rede über die Beschränkung der einzel­nen men­schlichen Stimme hin­aus weit­er getra­gen wird. Zur laut­en Weit­er­leitung der eige­nen Stimme kann jede Per­son aufrufen, indem sie zweimal laut «Mic Check! Mic Check!» ruft.

Es ist ein sich wieder­holen­des und auf den Plätzen immer wieder konkret erfahrbares Missver­ständ­nis, Debat­te hier als Diskus­sion ein­er Sach­frage zu ver­ste­hen, die möglichst effizient, schnell und durch eine Abstim­mung legit­imiert, zu einem Ergeb­nis gebracht wer­den soll. Dieses Missver­ständ­nis kommt von außen und illus­tri­ert, wie unvorstell­bar und strit­tig es heutzu­tage ist, das Ide­al attis­ch­er Demokratie aus dem Kanon der Schul­bil­dung in die prak­tis­che Erfahrung der post­demokratis­chen Stadt zu über­tra­gen.

In der medi­alen Ver­bre­itung dominieren neben den Bildern man­i­fester Kon­flik­te zwis­chen AktivistIn­nen und Sicher­heit­skräften jene, die einen mit Kör­pern über­vollen Platz zeigen. Diese Bilder zeigen nicht die All­t­agssi­t­u­a­tion auf eben densel­ben Plätzen. Das symp­to­ma­tis­chere Bild für das neue Gespenst ist der Live-Stream der stun­den­lang andauern­den Debat­te eines offe­nen Plenums. Ein beschreiben­des Bild sind die Info­tis­che und Anschläge mit den Zwis­chen­stän­den von Debat­ten und Arbeits­grup­pen. Beze­ich­nend sind die Innen­leben der IT-Zelte und eige­nen Medien­zen­tren, die Kon­tenpunk­te, über welche die lokalen Debat­ten mit jenen auf anderen Plätzen und in anderen Räu­men ver­bun­den sind.

Ein Merk­mal der neuen Protest­be­we­gun­gen ist die Beset­zung von zen­tralen Plätzen und neu­ral­gis­chen Räu­men, um eben diese Räume als Stät­ten für öffentliche Debat­ten zu öff­nen. Der Raum wird geöffnet für die gemein­same Debat­te der Angele­gen­heit­en aller. Die Ver­samm­lun­gen sind inklu­siv und unbes­timmt. Sie set­zen die hier­ar­chis­chen, exk­ludieren­den Regeln herrschen­der poli­tis­ch­er Mei­n­ungs­bil­dung außer Kraft. Sie sind Ver­suche eines herrschafts­freien Diskurs­es.

Das Bild des Wut­bürg­ers zeich­net ein gegen­teiliges Bild. Der Kör­p­er des Wut­bürg­ers ist durch Wut verz­er­rt, blind vor Wut und gilt als unberechen­bar. Die Kon­struk­tion und bre­ite Per­pe­tu­ierung dieses Images wirft ein tre­f­fend­es Licht darauf, dass die herrschende Klasse besorgt ist und vor den offe­nen Ver­samm­lun­gen Angst hat. Der öffentliche Raum kön­nte — wieder — Bren­npunkt poli­tis­ch­er Debat­ten wer­den, die von Beginn an abseits des etablierten poli­tis­chen Sys­tems stat­tfind­en und in ihrem Ablauf und ihrer Sog­wirkung tat­säch­lich unberechen­bar sind.