Das Material, etwas Doku. Zuallererst aber ein herzliches und großes Danke an die Organisation des AMRO Festivals. So etwas von fein und wunderbar! Nämlich alles. Von, dass es das gibt, über was es ist und wie es funktioniert, bis hin zu Räumen und Orten, Buffet und Kaffee, Kommunikation und Abstimmung, Teilnehmer_innen und Stil. <3
Der Workshop — Ankündigung hier — bei strahlender Sonne draußen auf der Dachterrasse des Architekturforums Oberösterreich und nur teilweise, für die Präsentation, drinnen im Saal.
Eine dieser Methoden hier exemplarisch skizziert: Nach der Vorstellungsrunde haben alle Teilnehmer_innen zwei Fragen, Bedenken, Hoffnungen, Erwartungen zu ‘liquid autonomy’ bzw zu Autonomie und Selbstverwaltung auf Karten notiert. Danach ging es in Kleingruppen. Mit den Karten ausgestattet haben wir unsere Fragen an anderen gerichtet, die ihrerseits als Reaktion — und das führt zu einer bemerkenswerten Art der Auseinandersetzung — nur mit weiteren, neuen Fragen antworten durften.
Sollte jemand soweit interessiert sein, die Präsentation kann gern auch heruntergeladen (odp, 550kb oder pdf, 1,1mb) und weiterverwendet werden, es gilt cc.
Hier der Versuch, die Herausforderung Social Media und Internet für Lehrer_innen in der politische Bildung grundlegend aufzubereiten.
Eingangs folgendes Diktum:
Wer über Social Media, Soziale Bewegungen und politische Bildung sprechen will, darf über Internet und World Wide Web nicht schweigen.
Das Internet bildet die Basis für all das, was wir seit einem knappen Jahrzehnt als Social Media ansehen. Wenn uns an einem tieferen Verständnis von Social Media und Sozialen Bewegungen gelegen ist, müssen wir uns damit beschäftigen, was das denn eigentlich ist.
“Das Internet”.
Das “Web”.
Wir stehen vor der Herausforderung, dass wir selbst einen adäquaten Begriff des technologischen Wandels und der gesellschaftlichen Implikationen brauchen, bevor wir daran denken können, anderen mehr als angelerntes, oberflächliches Wissen zu vermitteln. Tieferes Verständnis als Basis emanzipatorischer Handlungsfähigkeit, das ist nicht einfach angesichts der vielschichtigen, komplexen und weiterhin relative neuartigen Phänomene, die uns ebenso einzeln wie als Gesellschaft vor mannigfaltige Probleme stellen.
Wie lässt sich eine Monstrosität wie das Internet, das uns allgegenwärtig umgibt und trotzdem so schwer greifbar ist, in seiner Gesamtheit erfassen?
Wie können wir den Themenkomplex pädagogisch angehen und fundieren, so dass implizite Missverständnisse und unwesentliche Annahmen abgearbeitet werden, während systemisches Grundverstehen aufgebaut wird, aus dem heraus es möglich ist, ebenso einzelne Fragen und Antworten abzuleiten wie zukünftige Entwicklungen einzuordnen?
Ich will das Ziel einer solchen Auseinandersetzung mit Foucaults bekannter Formel „Was ist Kritik“, nämlich „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden“, auf einen Punkt bringen: ((Foucault 1992, 12))
Wie kann Kritik von Social Media und Sozialen Bewegungen zur politischen Bildung werden, die sich nicht in Bewertungen aktuell diskutierter Phänomen erschöpft sondern gesellschaftliche Funktionen, Wechselwirkungen und Kämpfe nachvollziehbar macht.
Oder kürzer: die Kunst nicht dermaßen vom technologischen Wandel überfordert zu werden.
Der folgende Text schlägt ein Curriculum samt praktischer Aufgabenstellungen vor, das dieser Vision verschrieben ist.
Die einzelnen Etappen zielen dabei nicht auf das Geben von Antworten sondern die Kompetenz zu fragen und sich zu orientieren ab, also nicht auf Schließung sondern auf Öffnung. Mit jeder Etappe sind Aufgaben angeführt, die exemplarisch einen Eindruck geben mögen, was in der Bildungsarbeit an dieser Wegmarke diskutiert werden könnte.
Begonnen wird mit der Zeichnung einer Analogie, die unsere Position und unser Verhältnis zu den Phänomen Internet, Web und Social Media neu fasst.
Im nächsten Schritt geht es um die Einführung einer Metapher, die eben diese Phänomene und ihre Vielschichtigkeit beschreibt.
Mit dem dritten Schritt gelangen wir zu einer klaren strukturellen Definition „Was uns das Internet alles ist“. ((Wenn im weiteren Verlauf vom Internet und nur an ausgesuchten Stellen auch vom WWW und den Social Media gesprochen wird, so dient das der Vermeidung umständlicher Verdopplungen. Das “Internet” wird als Bedingung der Emergenz der beiden weiteren Phänomene explizit vorangestellt, Web und SM sind in der Regel mitgemeint.))
Nach diesen ersten drei Etappen, die zusammen darauf abzielen, einen umfassenden Begriff des komplexen Phänomens Internet in unserer Gesellschaft zu entwickeln, wird die Verbindung zu sozio-kulturellen Interessen, politisch-ökonomischen Konflikten und sozialen Bewegungen skizziert.
Schritt fünf nimmt sich daraufhin des Bemessens von Veränderungen und gesellschaftlichem Wandel an.
Schließlich geht es in zwei Schritten darum, das Wesen von Social Media zu verstehen. Dazu geht es freilich zuerst um das komplementäre Andere dessen, was wir als Social Media verstehen, nämlich die traditionellen Massenmedien.
Am Ziel all dieser Schritten sollten wir bei einem brauchbaren Grundverständnis dafür angelangt sein, was das Internet als Bedingung der Möglichkeit unserer gegenwärtigen Formen der Vergesellschaftung ist und mit den Sozialen Bewegungen zu tun hat.
Die letzte Etappe des Curriculums versucht die Erfahrungen der zurückgelegten Wegstrecke für eine knappe Diagnose zusammenzuführen, wo wir heute in Bezug auf Social Media und Soziale Bewegungen stehen, wie wir hier angekommen sind und worum es in Zukunft gehen wird.
Bevor es mit diesem Programm losgeht, erscheint es mir notwendig, zwei berechtigte Vorbehalte anzuführen:
Da ist zum ersten problematisch, nur bis zum Internet auszuholen und nicht noch eine Schicht grundlegender mit dem Wesen des Digitalen als Basis für unser Verstehen anzufangen. Für das Buch für den dieser Aufsatz geschrieben wurde, hätte das den Rahmen allerdings vollends gesprengt.
Zweitens könnte zum einleitenden Diktum gut und gerne addiert werden:
… und zum Internet sollte besser schweigen, wer ernsthaft und unironisch zu verstehen glaubt, was das Internet wirklich ist.
Nein, ich bilde mir nicht ein, das Internet zu verstehen.
Ich würde sogar sagen, dass wir alle an diesem universal- und kulturgeschichtlich Punkt der Gegenwart gar nicht in Lage sein können, das Internet samt anschließenden Phänomenen wirklich zu verstehen.
Nur, das ist kein Anlass zur schamhaften Zurückhaltung. Im Gegenteil.
Die Überforderung unserer Gesellschaft mit den immer noch relativ neuen technologischen Umwälzungen verdient, nicht nur eingestanden sondern als solche thematisiert und reflektiert zu werden. Mein Vorschlag wäre, sie zum Ausgangspunkt auch der didaktischen Auseinandersetzungen zu machen.
Die Analogie der ersten Moderne
Es ist eine der politischen Bildung oft nicht gegebene Gnade des Fachs der Historiker_innen, dass zweitere zu Geschichte(n) zusammenfassen können, was aus ihrer Position des Sprechens bereits zurückliegende Ereignisse sind, abgeschlossene Entwicklungen und bezüglich Relevanz klar zu Tage getretene Zusammenhänge.
Das Sprechen über den zeitgenössischen technologischen Wandel muss dagegen aus der Mitte der gegenwärtigen Umbrüche und Umwälzungen kommen. Im Unterschied zu anderen Umwälzungen unserer Zeit, die in große Begriffen wie Globalisierung, Überwachung, Neoliberalismus, Klimawandel, Prekarisierung gefasst werden, ist “das Internet” etwas, das wir selbst laufend benutzen.
Immer mehr ist das Internet unser Zuhause, ein Raum, in dem wir uns bewegen, wahrnehmen, begegnen, denken, sprechen.
Ein Jahrhundert früher sind es Erzählungen aus den elektrifizierten, industrialisierten Großstädten, die von der Erfahrung unbändigen, unüberschaubaren, bunten Treibens und von neuen, schwindelerregenden Geschwindigkeiten berichten. Die Erzählungen von damals ähneln in vielerlei Hinsicht unseren Erzählungen von heute. Vom Sog der Großstadt fasziniert, wird sie für viele und vieles zum Raum, der neues gebirt, während andere in Abwehr und Ablehnung die Konservierung früherer Verhältnisse suchen.
Ging es im Angesicht der modernen Metropole – Paris 1870, London 1880, New York 1890, Berlin 1900, Wien 1910 – darum, die Wucht der Erfahrung einer auf allen Ebenen explodierenden Großstadt zu verarbeiten, handeln unsere Erzählungen heute von der Wucht, mit der die digitale Revolution, die moderne Unterhaltungselektronik und das Internet unsere Lebenswelten und sozialen Systeme durcheinander bringen.
Betrachten wir unsere Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts vor der Folie des Modernitätsschocks des Fin de Siècle, ermöglicht das Wissen über damals, Bedingungen unserer unmittelbaren Gegenwart klarer zu sehen.
Aufgabe: Vergleiche die Situation von Zeitgenoss_innen des Fin de Siècle mit jener, in der wir uns heute befinden. Arbeite heraus, welche Herausforderungen damals und heute die Zeitgenoss_innen fasziniert und beschäftigt haben. Gibt es Ähnlichkeiten in der Erfahrung der Elektrifizierung, von Eisenbahn, Auto und modernen Großstädten damals mit den gegenwärtigen Erfahrungen einer digitalisierten Welt, des Internets und der Social Media?
Was bedeuten die neuen Umgebungen für die Politik, Kunst, Literatur, Wissenschaften und Wirtschaftssysteme?
Mit dieser Analogie wird dem, was wir pointiert den Schock der Moderne nennen könnten, unsere Gegenwart zur Seite und gegenüber gestellt.
Für das Heute wäre es dann konsequent, von einem Schock der Postmoderne zu sprechen. Das mag für die Charakterisierung unserer gegenwärtigen kulturgeschichtlichen Spanne übertrieben klingen und hieße, unsere Gegenwart als Schwellenzeit zu definieren. Der Unsicherheit und Überforderung im Angesicht der aktuellen Herausforderungen wird ein weiteres Element der Ungewissheit hinzufügt, in welche Richtung sich die Welt entwickelt.
Das Arbeiten mit der Analogie lässt uns dafür – zumindest methodisch – von dieser Unsicherheit, Überforderung und Ungewissheit ausgehen, lässt sie uns nicht nur akzeptieren, sondern zum analytischen Ausgangspunkt machen und im Spiegel der Moderne die Distanz eines guten Jahrhunderts nutzen, um uns selbst besser zu sehen.
Es ist das ein Kniff gleich jenem, den Italo Calvinos Marco Polo in den unsichtbaren Städten anwendet, wenn er dem Khan von den Städten auf seinen Reisen erzählt. ((Calvino 2013)) Alle diese Städte handeln von der einen, die dabei nicht genannt wird, von der Stadt, mit der alle anderen implizit verglichen werden. In den Erzählungen von den unsichtbaren Städten spricht Marco Polo immer von Venedig. Das Beschreiben der anderen Städte stellt die Distanz her, das zu Nahe, zu Selbstverständliche, zu Distanzlose klarer ins Auge zu nehmen.
Die Metapher der wie wuchernd wachsenden Großstadt
Stellen wir uns im nächsten Schritt nun das Internet tatsächlich als Metropole vor. Die Großstadt als Geflecht von Verkehrswegen und ‑knotenpunkten, durch die der traffic rauscht, als vernetzter Ballungsraum vieler großer und kleiner Speicher.
Wir nutzen in dem Fall eine Metapher, die seit längerem so manchen Menschen als naheliegend einfällt. ((Ich verwende sie in der politischen Bildung seit Jahren und mache die Erfahrung, dass sie hilfreich ist und funktioniert.)) Die Großstadt selbst bietet den Vorteil, räumlich sinnlich durch die eigene Bewegung in ihr erfahrbar zu sein (und darüber hinaus über viele andere Wege).
Der Begriff der Großstadt bietet den Vorteil, viele Aspekte, mannigfaltige Dimensionen, unzählige Bilder, diverse Erfahrungen und aber auch abstrakte Konzepte scheinbar widerspruchsfrei zusammenzufassen. Die Komplexität der Großstadt überfordert uns weniger als jene von Internet und Web, weshalb wir unser intrinsisches Verständnis von urbaner Komplexität nutzen können, jene von Internet und Web zu bewältigen.
Mitte der 2010er Jahre dürfen wir uns letztere freilich nicht als seit dem Mittelalter gewachsene, zentral organisierte, mitteleuropäische Großstadt vorstellen. Passender als das Bild von Wien heute wäre eines von Mexiko-City oder Mumbai.
Alles, was von aktuellen Stadtplänen gerade abgebildet wird, würden wir das per Suchmaschine Auffindbare nennen.
In den riesigen wilden Siedlungen ebenso wie in gated communites würden wir uns in Ermangelung einheitlicher Regeln nur mit lokaler Unterstützung und Genehmigung bewegen beziehungsweise zurechtfinden; die Ordnungs- und Disziplinierungssysteme sind da oder dort zu unterschiedlich ausgeprägt.
In die unzugänglichen deep net und anonym-geheimnisvoll dark net genannten Unter- und Abgründe der Stadt kommen wir allein mit exklusivem Wissen.
Es gibt viele Institutionen, aber (noch) keine zentrale Verwaltung und Regierung. Die Prinzipien der Selbstorganisation und der Selbstverwaltung sind häufig anzutreffen, sie sind für das Funktionieren ganzer Viertel notwendig.
Es gibt mehrere Zentren, viele Peripherien, und die Bewohner_innen sind nach Klasse, Schicht oder Milieu unterscheidbar.
Es gibt seit der Gründung der Stadt hier lebende und eben frisch zugezogene Städter_innen. Die einen kennen sie noch als überschaubares Dorf, andere sehen sie aus der Perspektive der Einwohner_innen eines gut organisierten Stadtteils neugebauter Mietwohnungen, und wieder andere versuchen sich gerade im Trubel einer wilden Siedlung zu orientieren.
An Freiräumen mangelt es nicht, während klarerweise immer mehr Bezirke den Logiken von Markt, Macht und Verwaltung unterworfen werden.
Übrigens können wir an dieser Stelle bereits fragen, was an der Stadt das Internet wäre: die materielle Ebene der Straßen, Gebäude, Kanalisation, Leitungen usw., was das Web: das Leben und Treiben der Bewohner_innen, die in ihrer interagierenden Gesamtheit erst die Stadt konstituieren, und was die Social Media: die durch die Stadt dringenden vielen Gespräche, die vor allem an Schulen, Märkten, Shopping-Malls, mit Veranstaltungen bespielten zentralen Plätzen usw. verdichtet und verbreitet werden?
Es wäre das eine potenzielle Aufgabe, die Differenzierung und begriffliche Schärfung einerseits anhand der Megacity-Metapher zu trainieren und andererseits zu diskutieren, inwieweit die sprachliche Abgrenzung der Begriffe gleichzeitig das Zusammenspiel des Ganzen aus dem Blick nimmt.
Was die Metapher der Megacity jedenfalls plastisch herausarbeiten sollte, ebenso wie die zuvor eingeführte Analogie zwischen dem Umbruch der Moderne und jenem der Gegenwart, sind die Logik und die Sichtbarkeit gesellschaftlicher Konflikte rund um Internet, Web und Social Media. Diese können so verortet werden, wie das im Gewebe der Stadt gut möglich ist. Da wie dort geht es um Architektur, Kontrolle über Infrastruktur und Nutzungsformen, um Teilhabe und darum, welche gesellschaftlichen Gruppen ihre Vorstellungen durchsetzen können.
Aufgabe: Konzipiere Stadtführungen, die in die verschiedenen Viertel, Dimensionen, Funktionen und Probleme der Metropole „Internet“ einführen.
Betrachte das Auftreten neuer, vordem nicht möglicher und daher nicht denkbarer Organisationsformen mit der Megacity-Internet-Metapher. Untersuche, inwieweit sich Ansprüche an politischer Beteiligung und Fragen der Herrschaft von der Stadt auf das Internet umlegen lassen.
Wozu und wie wir das Internet gebrauchen
Das Bild des Internets als lebendige Großstadt ist angedeutet. Wie viel sich damit anfangen lässt, muss hier der weiteren Arbeit mit der Metapher oder der Phantasie überlassen werden.
Die nun folgende strukturelle Definition funktioniert anders als eine Erzählung, sollte sich aber in dieses Bild des Internets als urbane Metropole integrieren lassen.
Die Definition basiert darauf, vier grundlegende Funktionen zu differenzieren, die “das Internet” gleichzeitig für Mensch und Gesellschaft erfüllt. Das Internet ist all diese vier Funktionen und Dimensionen in Einem!
Erstens ist es globales Transportmedium.
Zweitens ist es globales Speichermedium.
Drittens ist es globales Kommunikationsmedium.
Viertens ist es außerdem globale Ressource und globale Infrastruktur.
Warum erachte ich die Unterscheidung dieser Dimensionen für notwenig und hilfreich, wie lässt sich dieses Raster mit der Großstadtmetapher denken, und wie sieht es mit der Anwendbarkeit für die politische Bildung aus?
Definitionen des Internets setzen in aller Regel bei der Erklärung allein technischer Bedingungen an. Befragen wir das World Wide Web via Suchmaschine, so gelangen wir zum Eintrag “Internet” der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia. Das tuend, führen wir aus mehreren möglichen die heute gemeinhin wahrscheinlichste Handlung dafür aus, etwas zu recherchieren.
Im Akt, eine allgemein anerkannte Erklärung dafür herauszusuchen, was das Internet ist, greifen wir auf kulturelles Gedächtnis über das Internet zu, machen das im kollektiven Gedächtnis Web, machen das gemäß zeitgenössischer Internet-Kultur, machen das vermittels WWW, machen das unsere Suchanfrage in Bits and Bytes ins Netz sendend, die Bits and Bytes zum Aufruf des Internet-Eintrags der Plattform Wikipedia empfangend. Dieser wohl millionenfach durchgespielte Ablauf, über den noch einiges mehr zu sagen wäre, macht klar, dass technische Erklärungen allein nie erfassen können, was Internet und Web wirklich sind.
Für die politische Bildung ist ein auf technische Bestimmungen reduzierter Begriff ungenügend. Bedeutend ist vielmehr der Fokus auf gesellschaftliche Nutzung, gesellschaftliche Bedeutung, gesellschaftliche Bedingungen usw. ((Ich würde dagegen ein Verständnis von Technik vorziehen, dass gleichzeitig die materielle Ebene, die menschlichen Handlungen zur Nutzung und die mit der Nutzung ausgeführten sozialen Funktionen umfasst. Siehe dazu Rohpohl 1991.))
Es bedarf keiner tiefgreifenden Analyse, um sich zu vergegenwärtigen, wie essentiell die vier Dimensionen Transport‑, Kommunikations‑, Speichermedium sowie Ressource und Infrastruktur für alle Menschen, Gruppen und Gesellschaften sind. Es erscheint offensichtlich, wie relevant die Kontrolle dieser Funktionen sein kann, wie fatal jeder Ausschluss wäre. Das wird heute freilich bereits weitgehendst anerkannt.
Seit mehr als einem Jahrzehnt wird ein Menschenrecht auf Zugang diskutiert. Die Vereinten Nationen vertreten die Position, dass es Regelungen für diese „globale Ressource“ bedarf, die
„das Recht eines jeden Menschen auf selbstbestimmten Zugang zu Information ebenso wie auf selbstermächtigte Nutzung von Information und Kommunikationstechnologien unabdingbar unterstützen“. ((United Nations 2012))
Aufgabe: Diskutiere für jede der vier Dimensionen das Potenzial, wie und wozu Menschen diese jeweiligen Funktionen des Internets nutzen können.
Erörtere, was der Ausschluss von der einen oder anderen Funktion für Menschen bedeuten würde und mit welchem Recht so ein Ausschluss begründbar wäre.
Das globale Transportmedium nicht nutzen zu können, bedeutete mehr als digitale Daten nicht senden und empfangen zu können. An kaum einem Beispiel wird das so offenbar, wie wenn wir an Geldflüsse denken. Geld, das heute in aller Regel mittels virtueller Kontostandsänderungen zirkuliert, wird in diesem Sinne per Datenpaket und via Internet transportiert.
Hier ist die in Nullen und Einsern codierte Information das Bezeichnete selbst, und so werden nicht nur Datenpakete von dem Transportmedium übertragen, sondern Information, Kulturgüter, digitale Identitäten, Kapital und Befehle an Maschinen und Computer.
Die Kontrolle über diese globale Funktion bedeutet, solche Operationen regeln, stoppen, manipulieren zu können; etwa den Vorrang gewisser Daten vor anderen durchzusetzen, was das Ende der Netzneutralität mit sich brächte, oder die Kontrolle der Dinge im Internet of Things (IoT) in der Hand zu haben, in die kybernetische Kommunikation und Steuerung zwischen per Internet verbundenen Maschinen eingreifen zu können, um einen sogenannten Cyberwar führen zu können.
Ebenfalls in Datenpaketen übermittelt wird das, was wir menschliche Kommunikation nennen können. Die Bedeutung dieser Funktion ist kaum zu überschätzen. Die Bedeutung des Internets als Bedingung der Möglichkeit globaler menschlicher Kommunikation – ob Schrift, gesprochene Sprache oder Video, ob in Echtzeit oder als jederzeit aufrufbare Gespräche unter vielen Beteiligten – ebenso wenig. Daher leite an dieser Stelle über zur Dimension des Speichermediums.
Wir begreifen heute immer mehr, dass unsere Kommunikation nicht mehr so flüchtig und privat ist, wie wir das vom Gespräch auch dann gewohnt waren, wenn es in der relativen Öffentlichkeit eines öffentlichen Raums stattgefunden hat. Digitale Revolution und Internet haben menschliche Kommunikation nicht allein räumlichen und zeitlichen Beschränkungen enthoben, sondern Kommunikation auf vielen Ebenen speicherbar, abhörbar, kopierbar gemacht. Und gespeichert wird alles; Kommunikation, Daten von und über uns, Metadaten, alles von Datenschmutz bis zu sensiblen Daten.
Mit Blick auf die Funktion des Internets als globales Archiv rückt zudem die Bedeutung von Wissen in den Vordergrund. Dabei geht es um freies und frei zugängliches Wissen. Es geht um Kontrolle nicht nur über unsere Daten, sondern auch über kollektive Identitäten, um hegemoniale versus verdrängte Geschichten. Und es geht um die massive Umstrukturierung unserer kulturellen Gedächtnisse, soweit diese nicht mehr allein in Artefakten und Bauten, begrenzten Bildern und Schriften, Bibliotheken und Archiven, elitären Institutionen und Professionen gespeichert sind, sondern nun zusätzlich in diesem neuen globalen kollektiven Gedächtnis verhandelt werden.
Es wäre wohl eine der interessanteren Aufgaben, die gegenwärtig noch kaum angegangen ist, das theoretische Wissen um die Politik kultureller Gedächtnisse auf die veränderte Wirklichkeit des Internets anzuwenden. ((Für die grundlegenden Fragestellungen dazu vgl. Assmann 1992.))
Aufgabe: Sammle und systematisiere, welche Arten von Daten, was an Wissen es im Internet, im World Wide Web und auf den Social-Media-Plattformen gibt, was davon problematisch und riskant ist, was uns allen wichtig ist und was als gesellschaftlich wertvoll erachtet wird.
Überlege, über welche Wege Daten in die globalen Archive eingetragen werden, wer Zugriff auf welche Archive hat und was du dir an frei zugänglichem Wissen wünschen würdest. Welche Chancen und Risiken bieten die Transport‑, Kommunikations- und Speicherfunktionen den Sozialen Bewegungen?
Ressource, Infrastruktur und das Recht auf Stadt
„Selten wird die Stadt auf so dramatische und spektakuläre Weise zum Medium, wie es im Sommer 1989 in China geschah. Der zentrale “Platz des Himmlischen Friedens” in Peking diente den rebellierenden Studenten als Medium ihres politisch-existentiellen Anspruchs, dieselbe Ortssymbolik nutze dann die chinesische Kommunistische Partei, als sie den Ruf nach Freiheit mit Panzern überrollte – vor allem wieder auf diesem Platz, an diesem privilegierten Ort“. ((Schreibener 1990, 145))
So beginnt ein Artikel aus dem Jahre 1990 mit dem Titel „Die Stadt als Medium“, der in weiterer Folge daran erinnert, dass die Stadt „ein Medium ihrer bürgerlichen Belange, vor allem ihrer Unabhängigkeit und Aufgeweckheit [war], lange bevor es die Medien gab“. ((ebd., 154))
Interpretieren wir unsere Megacity „Internet“ als Medium, was für eine Stadt unüblich erscheinen mag, aber hin und wieder wie im angeführten Artikel getan wird:
Wir werden uns das Mediale, das Vermittelnde der Stadt im Kontext ihrer Architektur vorstellen, dabei die Transportwege, Speicherorte, Kommunikationskanäle nicht aus den Augen verlieren.
Wir werden die Komplexität der Struktur und vielleicht auch die Potenzialität der Megacity mitbedenken, kaum Gefahr laufend, sie als Medium mit einer black box oder gar mit einfacher Materie gleichzusetzen.
Und wir werden die Stadt als ständig im Wandel begriffenes Medium begreifen, so wie auch Internet, Web und Social Media. Wir würden von selbst bei dem Aspekt angelangen, dass diese Medien Ressourcen und Infrastruktur darstellen, laufend Neues zu bauen und an der bestehenden Architektur etwas zu verändern.
Selbstverständlich hat Facebook nicht die Arabellion bedingt, genauso wenig wie der Tian’anmen die Demokratiebewegung von 1989 ausgelöst hat. Die zentralen Plätze wie der Tahrir, der Syntagma oder die Puerta del Sol einerseits, ebenso wie die relevantesten Netzwerke, Foren und dissidenten Bilder auf Facebook andererseits waren den sozialen Bewegungen Medien der Kommunikation, der Organisation, der Protestentfaltung, der Widerständigkeit.
Und so wie die zentralen Plätze nur die sichtbarsten Brennpunkte sind, während die ganze Stadt Medium ist, gilt das vielmehr noch für “das Internet”, das Web und die Social Media als nur für die Plattform facebook.com.
(Hier wieder, während der Tian’anmen-Platz inklusive seiner Bedeutung und Funktion für Proteste gut vorstellbar ist, ohne dass wir dazu jemals in Peking gewesen sein müssen, stellt sich mit der Erwähnung von facebook ein weiteres Mal diese Form der Frage, was ist facebook eigentlich wirklich?)
Aufgabe: Welche Bedingungen stellen Städte, und welche Bedingungen stellt das Internet für soziale Bewegungen? Vor welche Aufgaben sehen sich Protestierende und Proteste Organisierende gestellt? Arbeite sowohl für alte soziale Bewegungen vor hundert Jahren heraus, welche Rolle Städte als Medien spielten, als auch für neue, welche Rolle das Internet für die gegenwärtigen Bewegungen spielt.
Überlege auch, wie die sozialen Bewegungen die Stadt der Moderne verändert haben, und stell die Frage, ob neue soziale Bewegungen heute das Internet verändern.
Die Dimension, dass das Internet Ressource und Infrastruktur ist, also Baustoff und Unterbau, kommt neben den Funktionen als Transport‑, Speicher- und Kommunikationsmedium in Betrachtungen und Diskussionen zu kurz. World Wide Web und E‑Mail bauen auf der Infrastruktur Internet auf, beides brauchen wir wiederum für Social-Media-Plattformen wie Facebook, Youtube und Twitter, über die wir soziale Netzwerke bilden, mit denen schließlich etwas organisiert, getan, umgesetzt wird.
Wir Menschen bauen mit diesen Ressourcen und Infrastrukturen neue Dienste, Plattformen und Organisationen, die, wenn das Internet als Bedingung dieser Möglichkeiten wegfiele, sich auch wieder auflösen würden. Wikipedia oder die Social-Media-Netzwerke, die rund um die unibrennt-Bewegung von Studierenden im deutschsprachigen Raum 2009 entstanden sind, oder Initiativen wie „europe versus facebook“, sind hier nur wenige von unzähligen Beispielen. Das letztere Beispiel fällt in eine besondere Kategorie.
Analog zu den Kämpfen um das Recht auf Stadt, geht es hier um das Recht auf Internet. So wie die Forderung mit Bezug auf die Stadt nicht allein darauf abzielt, in der Stadt leben können zu müssen, kann das Recht auf Internet nicht bei der Forderung auf Zugang beschränkt sein. Es geht um Mitbestimmung der Regeln, die hier wie da gelten sollen, um Teilhabe an den Produktionsmitteln und demokratische Ausverhandlung der Produktionsbedingungen.
Das Internet ist analog zur Stadt für viele der sozialen Bewegungen: ein Medium. Für manche Bewegungen ist es zudem ein oder das Thema. Für die Netzaktivist_innen das zentrale Anliegen.
Zwischen Modifikation, Transformation und Revolution
Hat sich durch das Internet alles geändert, oder bleibt eigentlich im Kern doch alles das Gleiche?
Die Frage dominiert seit Jahren in unzähligen Facetten. Sie steht oft am Beginn von Podiumsdiskussionen, wird in Workshops abgewogen, beschäftigt das Feuilleton.
Sind die occupy-Proteste im Kern etwas Neues oder das Altbekannte nur mit neuen Medien?
Hat Youtube die Taksim-Platz-Proteste explodieren lassen?
Oder sind Lernen, Literatur, Parteien und politische Einstellungen tiefgreifenden Transformationen unterworfen?
Die Fragestellung trägt, wenn derart allgemein formuliert und in ein dichotomes Korsett gezwängt, mehr zur Verdunklung als zur Erhellung bei. Trotzdem dominiert sie viele Debatten. Sie lähmt nicht nur die Debatten. Sie steht dem Verständnis der Phänomene im Weg.
Bis hierher wurde das Internet als komplexe, multifunktionale Megacity beschrieben, die sich selbst ständig ändert und ihrerseits Wandel evoziert.
Wie können in diesem fluiden Zusammenspiel komplexer Gemengelagen Veränderung oder Stabilität abgegrenzt und bemessen werden? Wie lässt sich über die Richtung von Einflussnahmen sprechen?
Dazu möchte ich noch einmal ein Raster struktureller Differenzierungen vorschlagen.
Wir können im Angesicht von Veränderungsdruck auf Organisationen zwischen Modifikation und strukturellem Wandel unterscheiden. Neben diesen beiden Kategorien ist als Möglichkeit freilich offen zu halten, dass Organisationen vollkommen unverändert bleiben; vielleicht weil sie keinem Veränderungsdruck ausgesetzt sind. Und schließlich ist die Emergenz vollkommen neuer Organisationsformen als Möglichkeit zu bedenken; also von neuartigen sozialen Gebilden, die sich nicht einfach als Entwicklung aus Vorgängerstadien ableiten lassen. Mit Organisationen bzw. sozialen Gebilden seien hier Formen der Vergesellschaftung gemeint, also gesellschaftliche Gebilde von der kleinsten Einheit der Gruppe (z.B. Kleinfamilie) bis hin zu Funktionssystemen (z.B. Wirtschaft) und sozialen Institutionen (z.B. Krieg).
Es ist vorstellbar, dass Menschen, Gruppen, Organisationen im Zeitalter der digitalen Revolution durch die Realität des Internets unbeeinflusst bleiben. Ein gedachter Koeffizient für Wandel läge bei Null.
Am anderen Ende der Skala diskutieren wir, ob sich das Ganze unserer Gesellschaft, und die ist in der globalisierten Gegenwart bereits als Weltgesellschaft zu bezeichnen, radikal ändert. Der Koeffizient läge bei hundert. Möglicherweise wird alles vom Kopf auf die Füße gestellt, die Umkehrung der Verhältnisse, das, wofür das Wort Revolution steht.
Allerdings, eine Skala von null bis hundert für alles vom einzelnen Individuum zur Weltgesellschaft ist zur Systematisierung so unhandlich wie die eingangs angesprochene dichotome Frage.
Daher der Vorschlag der Kategorien, mit denen in der politischen Bildung gearbeitet werden kann:
Keine Veränderung: [.. soziales Gebilde einsetzen ..] bleibt unverändert.
Die Anpassung der Form [.. ..] bleibt auf einfache Modifikation beschränkt.
Die Form der [.. ..] ist strukturellem Wandel unterworfen.
Emergenz: [.. ..] kann nur als neuartige Form sozialer Organisation verstanden werden.
Aufgabe: Ordne entlang des Rasters Organisationsformen, in die du eingebunden bist, wie Familie, Freundeskreis, Verein, Unternehmen, Kirche usw.
Versuche Beispiele für Organisationen zu finden, die es nur Dank Internet gibt und die in der Form vorher nicht existieren hätten können. Suche Gegenbeispiele gesellschaftlicher Organisationsformen, die seit der Emergenz des Internet verschwunden sind oder absehbar vollkommen verschwinden werden. Wahrscheinlich wird für jedes Feld der Matrix möglich sein, Beispiele zu benennen.
Untersuche exemplarisch auch noch die Schulklasse, die Organisation der Partnerschaftssuche, Dorfgemeinschaften, das Gesundheits- oder Verlagswesen, die Anhängerschaft einer beliebigen Musikband, Kirche, PolitikerIn oder einer sozialen Agenda, die von so vielen Menschen aktiv und kollektiv verfolgt wird, dass von einer sozialen Bewegung gesprochen wird.
Die Organisation von Informationskanälen
„Die Stadt als Labor der Beschleunigung und als Erlebnisraum der modernen Massenkultur bedient sich des Mediums Tagespresse. Dieses Medium übermittelt den Charakter und das Geschehen der Stadt, für die es gemacht wird. Andererseits ist die Stadt auch das Medium ihrer Tagespresse,“
schreibt Matthias Schreibener im zitierten Aufsatz „Die Stadt als Medium“. ((Schreibener 1990, 148))
Das Medium Fernsehen dagegen, „das schnell, mühelos und gleichförmig Städter wie Landbewohner erreicht“, ohne dem aktuellen Geschehen vor Ort Vorrang einzuräumen, „nivelliert den Unterschied von Stadt und Land“. ((ebd., 161))
Wenn die regionale Stadtzeitung das Medium des urbanen Zentrums ist und Fernsehen jenes des breiten (nationalen) Raums zwischen Zentrum und Peripherie, was sind Internet, Web und Social Media dann? Nun, zuallererst sind sie keine professionell erstellten und organisierten Informationssender, die uns zum Empfang angeboten werden, wie im Fall der klassischen Massenmedien.
Um die Social Media zu verstehen, müssen wir zunächst die Organisationsform herkömmlicher Medien in Erinnerung rufen. Im Zusammenspiel vierer Schlüsselpositionen wird festgelegt, wie eine Zeitung, Zeitschrift, ein Radio- oder Fernsehsender bespielt wird, das heißt: welche Informationen mit welcher Tonalität über diese Kanäle an Leser‑, Hörer- und SeherInnen herangetragen werden.
Das Management dieser Produkte heißt bei den klassischen Massenmedien Redaktion, die Eigentümer manchmal auch Herausgeber und die Arbeiter_innen Journalisten. Unter die weiteren Pressearbeiter_innen fallen ua. die Pressesprecher_innen, Referent_innen oder Öffentlichkeitsarbeiter_innen, die Inhalte in den Massenmedien unterzubringen versuchen.
Die Produzent_innen in diesem hierarchischen System sind ausgebildete Professionist_innen, die für diese Arbeit entlohnt werden. Sie sind ökonomisch von den Regeln des Systems abhängig und arbeiten nach den Regeln des Systems.
Die weitere Schlüsselposition in der Organisationsform klassischer Massenmedien besetzen die Kund_innen, die die Produktion und den Profit der Eigentümer bezahlen. In der Regel sind das die großen Wirtschaftszweige, die Werbung schalten. In geringerem Maße spielen vielleicht auch Leser‑, Hörer- und Seher_innen ein Rolle, soweit sie die Massenmedien mitfinanzieren können oder als imaginierter Markt für die Platzierung von Werbebudgets berechnet werden.
Aufgabe: Bilde vier oder fünf Gruppen, je eine für Eigentümer, Management (Redakteur_innen), Journalist_innen sowie Pressearbeit_innen und optional die Vertreter_innen kapitalstarker Wirtschaftszweige. Lass pro Gruppe herausarbeiten, in welchen Abhängigkeiten sie agieren, was ihre Ziele und Beurteilungskriterien für Erfolg sind. Diskutiere dann, wie die verschiedenen Schlüsselpositionen im Zusammenspiel Einfluss auf die Auswahl, Produktion und Färbung von Informationen auswirken werden.
Von diesen hier skizzierten Bedingungen dafür, wo welche Information in welchem Rahmen eines massenmedialen Kanals empfangbar ist, unterscheidet sich der Organisationsmodus der Social Media von Grund auf. Oder besser: der Distributionsmodus von Information über Social-Media-Plattformen.
Was einzelne lesen, hören, sehen, ist in den Social Media nicht der Auswahl von wenigen professionellen Sendern und Printprodukten geschuldet. Das wird von der je eigenen Position im Geflecht sozialer Netzwerke bestimmt.
But, how social a medium is facebook?
Der Begriff der sozialen Netzwerke ist es, von dem die Social Media in Abgrenzung zu klassischen Mass Media den ersten Begriffsteil übernehmen. Soziale Netzwerke werden durch Beziehungen zwischen Menschen oder Gruppen von Menschen konstituiert.
Der Begriffsteil “sozial” bringt keine Wertung zum Ausdruck. Er ist in der Disziplin der Netzwerkanalyse geschuldet und bezeichnet lediglich, welcher Art ein Netzwerk ist. Die Disziplin der Netzwerkanalyse untersucht schließlich nicht allein Netzwerke zwischen gesellschaftlichen Akteur_innen, sondern allgemein die Syntax zwischen verbundenen Elementen.
Facebook und Twitter sind genau genommen nicht Social Media. Und sie sind keine sozialen Netzwerke sondern Unternehmen und Plattformen, vermittels derer wir bestehende Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen nachbauen, erweitern und darüber hinaus zusätzliche neue Beziehungen mit anderen eingehen. Es sind Plattformen, die technische Hilfsmittel zur dauerhaften Konstruktion und zum Speichern von Beziehungsnetzwerken bieten. Und klar, sie verändern beziehungsweise erweitern unsere Arten und Weisen, miteinander zu kommunizieren. Sie legen uns Techniken nahe, wie wir den Transport von Informationen automatisieren können.
Das “sozial” in Social Media bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass die Auswahl, Produktion und Tonalität von Informationen über die sozialen Netzwerksbeziehungen organisiert werden; und nicht entlang der Logik der klassischen Medien.
Die BewohnerInnen der Megacity “Internet” sind in Sachen Informationssammlung, ‑aufbereitung und ‑weiterleitung grosso modo Amateur_innen, keine hierfür ausgebildeten, bezahlten Professionist_innen. Sie sind Prosument_innen, die an den Gesprächen in den verschiedensten Vierteln, auf Foren und bei Veranstaltungen in der Stadt mehr oder weniger aktiv teilhaben.
Obwohl es in Netzwerken ebenfalls Schlüsselpositionen gibt, haben diese nichts mit jenen der Organisation klassischer Massenmedien gemein. Welchen Mix an Informationen in welcher Geschwindigkeit und mit welcher Tonalität wir über Social-Media-Plattformen empfangen, hat mit der Auswahl und Steuerung unserer Beziehungen zu tun.
Das Internet ist dabei weder das Medium der Urbanität wie die Stadtzeitung noch das Medium für das Mittelmaß der nationalen Kulturindustrie wie das Fernsehen, sondern am ehesten das Medium der Reproduktion unseres Milieus und der je eigenen Interessen. Die Verdichtung der Informationen passend zu den eigenen Vorlieben und Weltanschauungen wird seit wenigen Jahren mit dem Begriff der Filter Bubble beschrieben, einem Soziolekt der Netzkultur, der ursprünglich die Auswirkung der Personalisierung von Informationsangeboten durch Google-Dienste und Plattformen wie Facebook thematisieren sollte. ((Siehe dazu die Aufzeichnung des bekannten Vortrags von Eli Pariser (2011).)) Durch die personalisierte Anzeige uns passender Informationen würden Menschen nur in ihren Weltsichten bestärkt und keine neutrale Übersicht zu gesellschaftlichen Themen mehr bekommen.
Der Sog zur Reproduktion einer eigentümlichen kleinen Welt geht freilich von den verfügbaren klassischen Medien stärker aus als von der Megacity „Internet“. Die Reproduktion des eigenen Umfelds ist etwas, das soziale Netzwerke unabhängig davon tun, ob sie auf ein Leben abseits der Megacity beschränkt sind, ob sie nur in einem begrenzten Stadtteil verbleiben oder sich durch die Stadt spannen. Die Wahrscheinlichkeit aktiver Prosument_innen ist bei klassischen Massenmedien nahezu ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit, eigene Weltbilder und Horizonte in Frage zu stellen, bei einem aktiven, vernetzten Leben in der Megacity ungleich höher.
Stellen wir die klassischen Massenmedien den Social Media noch einmal gegenüber. Wo verorten wir erstere im Geflecht der Stadt? Das ist einfach und lässt sich praktisch visualisieren, zum Beispiel am Stadtplan von Wien oder einer beliebigen Landeshauptstadt. Die Produktionsstätten der Medienhäuser sind schnell markiert.
In Wien begännen wir mit dem ORF-Zentrum am Küniglberg, dem Funkhaus in der Argentinierstraße und dem Sendestudio von Ö3 in Heiligenstadt. Dann würden wir die Häuser am Stadtplan identifizieren, in denen die Kronenzeitung, der Kurier usw. produziert werden. Wir zeichnen alle Orte ein, wo Tageszeitungen und Zeitschriften gemacht werden. Markiert sind schließlich einige wenige Gebäude in einer großen Stadt.
Die Gebäude identifizieren wir unter anderem als Arbeitsplätze, an denen Belegschaften das produzieren, wofür sie bezahlt werden. Visualisieren wir als nächstes, wo überall die in den Medienhäusern produzierten Inhalte bei den Rezipient_innen ankommen, ergibt sich schnell das Bild von wenigen Bündeln mit unzähligen Strahlen.
Die Bündel der Kronenzeitung und des Fernsehens werden die dichtesten sein, jene von DerStandard und DiePresse ein Vielfaches ausgedünnter. Erstere werden wahrscheinlich überall hinreichen, während die Bündel des Kultursenders Ö1 oder der Zeitschrift „Die ganze Woche“ in unterschiedlichen Stadtteilen mehr oder weniger Strahlen aufweisen werden. ((Eine lohnende wiewohl anspruchsvolle Aufgabe wäre, mit Vilém Flusser den Bündeln (Latein: fasces) der Informationsflüsse nachzugehen und die Form der Bündelung entlang verschiedener Medien zu vergleichen. „Die Medien bilden von den Zentren, den Sendern, ausgestrahlte Bündel. […] Die Struktur der von technischen Bildern beherrschten Gesellschaft ist demnach fascistisch, und zwar ist fascistisch nicht aus irgendwelchen ideologischen, sondern aus ‘technischen’ Gründen“, vermerkt Flusser (Flusser 1999, 68). Untersuche, wie weit sich die mit dem Internet verbundene Hoffnung auf pluralistischere, demokratische Bündel bewahrheitet.)) Vor uns spannt sich ein Diagramm von Sendern und EmpfängerInnen auf, das für klassische Massenmedien steht.
Zeichnen wir nun auf dem gleichen Stadtplan die Verbindungslinien der Social Media ein, oder stellen wir uns diese Linien besser nur vor, ergibt sich offensichtlich ein vollkommen diametral anderes Bild.
Aufgabe: Erforsche die Stadt auf der Suche nach sozialen Netzwerken, die für die Produktion, Verteilung und Interpretation von Informationen wichtig sind. Wie werden in und durch die Stadt Beziehungsgeflechte aufrechterhalten, über die Informationen und Wissen ausgetauscht oder generiert werden? Welche Dimensionen kommen bei von Social-Media-Plattformen gestützten Netzwerken gegenüber jenen im Gewebe der Stadt hinzu, welche fallen weg? Und was befördert da wie dort den Sog zur Filterblase?
Durch Werbung finanzierte Massenmedien werden größtenteils durch die Anzeigen der großen Wirtschaftszweige finanziert. Wie werden das Internet, das Web, und wie werden in unserer Megacity die riesigen Shopping-Malls, Vergnügungsparks und Kinocenter der Facebook Inc. finanziert?
Produktive Selbst-Beschäftigung und Überwachung
Die Nutzung von Facebook steht heute allen offen und ist kostenlos. Konzerne wie die Facebook Inc. finanzieren das mittlerweile zwar auch über Werbeeinnahmen, vor allem über die vorgeschossene Erwartungshaltung der Anleger_innen.
Die Ware von Facebook und Co. sind die Daten der Nutzer_innen, die Benutzerprofile, also die Bewohner_innen unserer Megacity, und nicht zuletzt deren Beziehungen und Interaktionen. Die Bevölkerungen der Social Media Plattformen arbeiten stetig an qualitativ besseren wie quantitativ dichteren Datensätzen über sie selbst und in Summe über die gesamte Population dieser Welt, ihr Verhalten, ihre Einstellungen, ihre Geschichten, ihre losen und ihre engeren Beziehungen.
Ein Datensatz ist Geld wert. Die Informationen über Bewohner_innen werden in der Megacity gehandelt, transportiert, aggregiert, selbstverständlich gespeichert und zunehmend ausgenutzt, um uns etwas schmackhaft zu machen, um unseren potenziellen Wert als Kund_innen zu lukrieren, unsere Bewegungen und Handlungen in stochastischen Modellen hochzurechnen. Die Daten, zunehmende Unmengen an Daten, und die Interessen an ihrer Nutzung liegen im Internet mehr als jemals in der Stadt der Moderne bei den Regierenden.
Big Data ist der aktuell Konjunktur erfahrende Begriff dieser Entwicklungen, im Zuge derer Herrschende die Hoffnung entwickeln, deviantes Verhalten und (ihnen) potenziell gefährliche Bewohner_innen vermittels Big-Data-Modellierungen ausrechnen zu können, bevor es überhaupt zu solchen Handlungen kommt.
Die massenhaft anfallenden Daten der Bewohner_innen der Megacity dienen nicht allein wirtschaftlichen Zwecken, sondern natürlich der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung, des Mobs. Wir finden hier nichts anderes als eine weitere Parallele vor, wie wir die Metapher der Großstadt produktiv für unseren Blick auf Internet, Web und Social Media nutzen können.
Aufgabe: Vergleiche die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in Städten mit den Entwicklungen des Internets, Webs und der Social-Media-Plattformen. Wie äußern sich da wie dort: Kommodifizierung, Ausverkauf und Einschränkung öffentlichen Raums, Formen der Kontrolle und Überwachung, Verdrängung lokaler Unternehmen durch globale Konzernstrukturen, widerständige Initiativen und Arbeitsweisen?
Diskutiere die Frage zweigleisig, wie wir bei einem Leben in der Stadt und im World Wide Web selbstbestimmt den Verlockungen der Städte widerstehen können und ob umgekehrt die Dystopie vollständiger Kontrolle im Sinne Herrschender überhaupt realistisch ist.
Der Beginn der digitalen Revolution, dann das Internet, bald darauf das Web und schließlich die Emergenz der Social Media haben einen unabsehbar großen Raum potentieller Entwicklungen unserer Gesellschaften eröffnet. Zu den faktisch wie potenziell positiven, emanzipatorischen Auswirkungen gehören die faktisch wie potenziell negativen, uns ausliefernden Folgen. Es sind das die zwei Seiten derselben Medaille.
Sich vom Internet abzuwenden ist als Reaktion darauf so legitim, wie das gute hundert Jahre früher die Landflucht als Reaktion auf die Großstadt der Moderne war. Den gesellschaftlichen Entwicklungen, die durch diese neuen Phänomene evoziert werden, kann die Einzelne deswegen kaum entgehen; und unsere Gesellschaft jedenfalls gar nicht.
Stadt wie Internet sind komplexe Infrastrukturen und Medien, in denen wir uns mehr oder weniger widerständig oder konformistisch, naiv oder gegenüber unseren Lebensbedingungen verständig bewegen, die Ressourcen und Infrastrukturen passiver oder aktiver nutzend, die Wirkung der Medien so oder so mitbestimmend.
Das tun wir auch als politische Bildner_innen. Unsere Gegenwart, unsere Beziehungen, unsere Handlungen, unsere Beteiligungen und unsere Beispiele spielen in diesem wie in jenem Raum eine gewisse Rollen. Eine äußerst begrenzte, aber nichtsdestotrotz nennenswerte.
Wir nutzen heute bereits immer öfter Internet, Web und Social Media als Transport‑, Kommunikations- und Speichermedium, und auch als Ressource und als Infrastruktur; selbst da, wo wir das wenig reflektiert und eher beiläufig tun. Wir nutzen die Möglichkeiten unserer Zeit.
Die prekäre Situation der gläsernen Lohnabhängigen
Mit diesem Beitrag soll auf ein Set von Problemlagen aufmerksam gemacht werden, das sehr viele Menschen und unser aller gesellschaftliche Beziehungen berührt, für das bislang aber kein Problembewusstsein zu finden ist. Die Problematik ist der Tragweite zum Trotz weitgehend unerforscht, in ihrem Wesen, ihren Bedingungen und Auswirkungen. Es geht, wie Titel und Untertitel andeuten, um die prekäre Situation Lohnabhängiger in Bezug auf eine spezifische Form des Ausgeliefertseins. Bei dieser spezifischen Form des Ausgeliefertseins Lohnabhängiger geht es nicht einfach um Überwachung oder nur um Überwachung. Es geht im Kern nicht um die durch den technologischen Wandel bedingt mannigfaltigeren, einfacheren und billigeren Optionen Lohnabhängige zu überwachen. Es geht nicht um Privatsphäre am Arbeitsplatz. Es geht, daher der an Orwell gemahnende Titel, um viel viel mehr.
Worauf gründet sich die angesprochene spezifische Form des Ausgeliefertseins, was ist das Spezifische der Form? Geht es allein darum, dass es sich um Lohnabhängige handelt oder ist da mehr zu beachten? Inwiefern verdienen Abhängigkeiten und Interessenslagen mehr Problembewusstsein? Plus, wie sieht es mit Möglichkeiten aus, wie ist es um Ansätze bestellt, gesellschaftlich unerwünschte Auswirkungen einzudämmen bzw. mittels proaktiver Eingriffe in die bedingende Struktur auszuschließen?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich folgender Aufriss. In mehreren systematischen Bildern versuche ich in die prekäre Situation der gläsernen Lohnabhängigen einzuführen und das Spezifische dieser Form des Ausgeliefertseins herauszuarbeiten. Die Einblicke in die Problemlage verdanken sich dabei der langjährigen Zusammenarbeit mit Betriebsrät_innen, dem Austausch mit Hauptamtlichen der GPA-djp und dem Kontakt mit Datenschutz- und Netzaktivist_innen.
Bild 1: Arbeiten in der MitM-Umgebung
Beginnen wir mit einer der vier grundlegenden Bedingungen und Einflussgrößen unserer spezifischen Form des Ausgeliefertseins, der „digitalen Revolution“. Wir finden uns heute in einer weitgehendst digitalisierten Arbeitswelt wieder. Folglich sind die basalen Eigenschaften und Probleme digitaler Kommunikation zu bestimmenden Strukturbedingungen auch der Arbeitswelt geworden. Diese Vorbedingungen sollen hier folgendermaßen – in ein Bild – zusammengefasst werden:
Das was S/E und E/S an Information austauschen, sind also Nuller und Einser, die als exakte Datenpaketskopien sowohl bei S/E und E/S zu finden sind. Sowie an allen Schnittstellen entlang ihrer Datenübertragung.
Diese digitale Ordnung bringt unzählige Vorteile mit sich. Unter anderem liegen die in der erleichterten Vervielfältigung, schnelleren Übertragung, flexiblen Bearbeitung, billigen Ablage oder weiteren Reichweite von Infos beziehungsweise Daten. Die bits sind heute bereits überall und sind überall hin übertrag- und kopierbar. Denken wir an Datenkabel oder kabellose Übertragungen, an Netzwerke oder unsere einzelnen „devices“, seien das Smartphones, klassische PCs, Pads oder Kameras, Herzfrequenzmesser, Uhren, Busstation-Infotafeln, Navigationsgeräte.
Ein Problem, das mit dieser digitalen Ordnung einher geht, hat mit all den oben genannten Vorteilen zu tun und damit, dass sie von Dritten missbraucht werden können, die sich in die Datenübertragung zwischen S/E und E/S einschalten. Für diese Dritten, die in der Regel unbemerkt bleiben, hat sich seit langem der Begriff „Man in the Middle“ (MitM) etabliert.
Überall wo sich Dritte in Datenübertragung einschalten, können sie unsere bits’n’bytes potentiell mitkopieren, für sich speichern, aber auch löschen oder an den Datenpaketen etwas verändern. Sie könnten außerdem Nuller und Einser an E/S oder S/E schicken, die S/E oder E/S als Quelle ausgeben, aber Fälschungen sind. Wir sprechen dann von „Man in the Middle-Attacken“. (Hier wäre nicht nur an menschliche Kommunikation etwa per E‑Mail, Chat, Messaging-Systemen oder per Telefonate zu denken sondern an jede Datenübertragung zwischen Geräten, Speicherorten, Programmen.)
Diese MitM-Problematik ist für sich genommen kein Spezifikum der Arbeitswelt. Alle sind betroffen, jede Datenübertragung davon berührt. Schauen wir uns die Schutz- und Gegenmaßnahmen an, sieht das Bild jedoch etwas verändert aus.
Wie sehen die aus? Die Gegenmaßnahmen sind im Prinzip banal, in der Umsetzung leider nicht. Verschlüsselte Datenübertragung verhindert, dass Angreifer in der MitM-Position mit den Nullern und Einsern etwas anfangen können, die wir übertragen. Das System des Signierens von Zertifikaten schafft Überprüfbarkeit, dass Datenpakete wirklich von S/E und E/S kommen und über die gesamte Strecke der Datenübertragung nicht ein bit verändert wurde. Diese beiden Gegenmaßnahmen schließen, wie das Bild schon zeigt, die Möglichkeit von MitM nicht aus, schlicht weil das keinen Sinn macht. Sie unterbinden aber, dass aus der MitM-Position heraus Attacken erfolgreich sind, dass unsere Daten verwendet oder gefälschte Informationen eingespeist werden.
Das alles setzt voraus, dass wir uns an die goldene Regel halten, wie sie uns von allen Datenschützern immer als vorrangigstes Prinzip genannt werden wird: nie die Kontrolle über die eigenen Geräte abgeben. Haben wir die einmal verloren, können wir nicht mehr sicher sagen, dass wir die Regeln bestimmen, nach denen unsere Geräte das machen, was wir auf ihnen und mit ihnen tun wollen. Ein Computer, zu dem wir den Zugang abgegeben haben, gilt als unsicher, es ist potentiell fremdbestimmt.
Ist ein Gerät einmal unsicher, können wir noch soviel und kompetent verschlüsseln, wir dürfen dem Gerät selbst nicht mehr vertrauen. Überall kann eine versteckte Hintertür eingebaut sein. Wir können noch soviel überprüfen, ob S/E und E/S wirklich gesichert die Sender- und Empfänger-Personen, ‑Accounts, ‑Programme, ‑Speicherorte sind, als die sie sich identifizieren. Den Systemen der Identifikation ist nicht mehr zu trauen. Deswegen sind Datenschutzprofis radikal, wenn wir sie fragen, was da dann noch zu machen ist. Nichts. Ist die Kontrolle über die eigenen Geräte einmal abgegeben, ist sie für immer verloren.
Genau das ist nun freilich die spezifische Ausgangsbedingung der Arbeitswelt. Lohnabhängige arbeiten auf Geräten, über die sie nie Kontrolle hatten.
Die digitale Infrastruktur, mit der Lohnabhängige im Arbeitsverhältnis zu arbeiten haben, ist für sie unsicher. Die Regeln, die auf Arbeitsgeräten, in den Netzwerken, auf den Servern im Betrieb gelten, werden von der Unternehmensführung bestimmt. Das Unternehmen ist der omnipotente und omnipräsente Man in the Middle jeder digitalen Operation im Betrieb.
Damit wäre das erste Bild vorgestellt. Es ist grundlegend, beschreibt die prekäre Situation der Lohnabhängigen aber noch nicht. Es bezeichnet lediglich eine Ausgangslage: Lohnabhängige arbeiten heute in einem digitalen Umfeld, das dem MitM=Unternehmen volle Kontrolle über alle bits’n’bytes zulässt. Wie eingangs dieses Abschnitts angedeutet, würde ich diese Ausgangslage als eine der vier Bedingungen der spezifischen Form des ausgeliefert seins Lohnabhängiger ansehen. Es handelt sich um die relativ neueste, also am wenigsten analysierte Einflussgröße. Die anderen sind dagegen bekannt:
das durch den Kapitalismus bedingte Verhältnis der Lohnabhängigkeit selber, das die Arbeitenden zum Verkauf ihrer Arbeitskraft an das Kapital zwingt,
dann die rechtlichen Rahmenbedingungen, von denen hier noch zu sprechen sein wird,
und schließlich die Frage der politischen Macht der organisierten Arbeitenden, im Betrieb, der Branche, dem Staat beziehungsweise weltweit.
Bild 2: Bits kontrollieren, Daten aggregieren
Es dringt Mitte des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts immer mehr ins breite Bewusstsein vor, dass wir nicht kontrollieren können, wer wo Daten über uns hat und was mit diesen Daten geschieht. Es lässt sich nicht mehr verhindern, dass Staat und Behörden, dass Infrastrukturanbieter und Sozialversicherungen, dass Unternehmen und Vereine detaillierte Daten über uns besitzen, gespeichert in bits’n’bytes … und mithin allzu einfach kopier‑, verlier- und verknüpfbar. Die Daten, was sie über uns aussagen, wie sehr sie in die Tiefe gehen, was sich mit ihnen anstellen lässt, all das ist verschiedener Natur. Es macht einen Unterschied, dass der Handelskonzern aus unseren Einkäufe einiges über einen ganzen Haushalt errechnen kann, was ein AMS aus „Kundendaten“ über uns weiß, oder ob Vorgesetzte wissen, wo wann auf welcher Straße Mitarbeiter_innen wie schnell und mit welchem Verbrauch gefahren sind.
Der erste große Unterschied liegt im Abhängigkeitsverhältnis unabhängig irgendwelcher Datenlagen, also bevor wir davon ausgehen, dass eine Behörde, ein Unternehmen oder unser Arbeitgeber Daten über uns sammelt. Unsere Position gegenüber dem Staat ist die der Bürger_in. Den Unternehmen stehen wir als Nutzer_innen, Kund_innen, Konsument_innen gegenüber. Und in der Arbeit sind wir Arbeiter_innen, Angestellte oder Dienstnehmer_innen gegenüber Vorgesetzten. Für jede dieser Dimensionen gibt es nun eigene spezifische Rechtsverhältnisse, unterschiedliche Möglichkeiten der Kontrolle bzw des Einspruchs, der Rechtsdurchsetzung im Fall des Falles.
Ein weiterer großer Unterschied zwischen den Verhältnissen (1) Staat-Bürger_innen, (2) Unternehmen/Kund_in, (3) Betrieb/Lohnabhängige liegt in den verschiedenen Interessensstrukturen und in weiterer Folge den Praktiken, Kulturen. Diese Differenz bleibt auch eingedenk dessen relevant, dass die Praktiken der Kontrollgesellschaft und des Neoliberalsmus da wie dort auf dem Vormarsch sind.
Umgekehrt bestehen innerhalb der oben unterschiedenen Verhältnisse Differenzen; also etwa in den Interessen der Geheimdienste oder Krankenkassen, zwischen den Praktiken lokaler Buchhändler und dem weltweiten Versandhandelskonzern, bezüglich der Managementkultur beispielweise im Call-Center oder am Bau.
Die Interessen, gängige Praktiken und Kulturen bestimmen weitgehend, wo welche Daten erfasst werden und wie mit ihnen umgegangen wird. Bei all der daraus entstehenden Bandbreite bleiben die Unterschiede relevant, bleibt der strukturelle Interessenskonflikt zwischen Kapital und Lohnabhängigen grundlegend.
Der dritte Unterschied liegt in der Dichte, Konzentration und Verfügbarkeit der Informationen. Im Betrieb fallen pro Mitarbeiter_in laufend jede Menge exakter Daten auf vielen Ebenen an und sie liegen, mehr oder weniger, in einer Hand.
Laufend heißt über die gesamte Arbeitszeit hinweg, stundenlang, täglich, über Jahre hinweg.
Jede Menge heißt, dass neben Personal- und Lohnverrechnungsdaten viele andere hinzukommen wie etwa aus der Zeiterfassung, Produktion, betriebsinternen Kommunikation, Zutritts- und Leistungskontrolle etc.
Exakt heißt, dass diese Daten auf und mit den Systemen des Unternehmens unter eindeutiger Identifikation der einzelnen Mitarbeiter_in bit für bit erfasst werden können. Das erledigt schon jeder Tastenanschlag und Klick eingeloggter Mitarbeiter_innen auf den „devices“ oder die Zutrittsmagnetkarte, das Telefonsystem, der im Qualitätsmanagement festgelegte Arbeitsablauf usw.
Dort wo rechtliche Rahmen der Datenerfassung Grenzen setzen und organisierte Lohnabhängige auf Einhaltung dieser Grenzen drängen, wirken digitale Logik und Kapitalismus diametral Richtung Entgrenzung. Daten zu erfassen und zu speichern geht fast mühelos und ist kostengünstig. Daten auszuwerten und mit wiederum anderen Daten zu verknüpfen, verspricht in der digitalen Welt Mehrwert. Was sich mit in Nullern und Einsern gesicherten Informationen machen lässt, steht in keinem Verhältnis zu den Kosten.
Aus dem analogen Informationen Besorgen wird im pathologischen Extrem digitaler „Datensammelwahn“. Aus dem Bedürfnis, Wissen archiviert und zugänglich zu halten, wird das krankhafte Speichern jedweder bit’s’bytes auf Vorrat, wird anlasslose „Vorratsdatenspeicherung“. Aus dem Bedürfnis die Welt besser zu erkennen und zu beherrschen, wird der triebhafte Zug zur „Rasterfahndung“. Freilich sind diesen Schritten in der digitalen Welt immer noch Schranken gesetzt, sie werden aber weiterhin kleiner.
Der technologische Fortschritt in Bezug auf Sammeln, Speichern, Auswerten wird vorangetrieben, angetrieben durch die Erwartungshaltungen des Kapitals. Das notwendige Know-how verbreitet sich und wird abgesenkt, dh., dass für Kund_innen spezielle und bedienungsfreundliche Anwendungen produziert werden (wie zB. Hard- und Software, die dem Management bessere Überwachung der Mitarbeiter_innen und Kontrolle der Belegschaft bieten). Rechtliche Schranken und Einschränkungen werden – mit großem Druck von Seiten des Kapitals – abgebaut.
„Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts“, heißt es, und als solches wollen sie gefördert, verarbeitet und ausgewertet werden. Sie können zweifellos kapitalisiert werden. Dadurch werden jedoch nicht so sehr asymmetrische Machtverhältnisse geschaffen, als dass bereits vorhandene, abgesicherte Asymmetrien Voraussetzung dazu sind, Daten in Kapital umwandeln zu können. Die Möglichkeit dazu setzt in der Regel eine privilegierte Position voraus und liegt nicht in den bit’s’bytes selbst begründet.
Daten könn(t)en schließlich genauso offen und frei zugänglich sein. Sie können Mittel zum Abbau von Asymmetrien sein, sind das manchmal auch. Viel wahrscheinlicher sind sie aber Mittel zur Absicherung eines Machtungleichgewichts. Weniger abstrakt ausgedrückt, es liegt nicht in an Daten, die z.B. Unternehmen über uns als Lohnabhängige haben, dass wir einfacher zu beherrschen sind. Vielmehr liegt es an den Möglichkeiten des Unternehmens, ungeahnt detaillierte personenbezogene Informationen über uns zu besitzen sowie weitgehendst sanktionsfrei gegen uns und unsere Interessen zu nutzen.
Dass bestehende asymmetrische Machtverhältnisse vor diesem Hintergrund weiter verstärkt werden, hängt also wesentlich mit der Frage von Besitz und Eigentum von Daten zusammen, mit der Verteilung von Rechten an Information und ihrer Verwendung. Klar, das galt schon vor der digitalen Revolution. Wer Informationen anhäufen und den Zugang beschränken oder die Nutzung durch andere sogar ausschließen kann, hat eine privilegierte Position und kann sich weitere Vorteile verschaffen.
Die technischen Grundlagen der digitalen Welt legen dagegen eher nahe, dass Beschränkung und Ausschluss von Information schwieriger geworden sein müsste. Daten sind in ihrer Natur als bits’n’bytes leichter denn je allen zugänglich. Es sind also nicht die eingangs geschilderten technischen Bedingungen, die Asymmetrien fordern und fördern, jedenfalls nicht alleine. Es sind Fragen der Rechte, der Ressourcen, des Eigentums (an Produktionsmitteln) und von Kontrolle, Mitbestimmung, Sanktionen.
Der Blick auf Produktion versus Besitz bzw. Eigentum von Daten wird an dieser Stelle Viele an die vordergründigen Produkte von Unternehmen denken lassen, an Werke, an Dienstleistungen, die angeboten und verkauft werden. Für die prekäre Situation der gläsernen Lohnabhängigen sind diese Daten weniger relevant, als die „Metadaten“ der Arbeitsprozesse. Produktion, das Arbeiten mit den (und auf den) Produktionsmitteln des Unternehmens, könnte auch ohne Erfassung personenbezogener Daten über die Lohnabhängigen funktionieren.
Gläsern werden die Arbeitenden erst dadurch, dass auf den Produktionsmitteln erfasste bits konkret einer einzelnen der vielen im Betrieb arbeitenden Lohnabhängigen zuordenbar sind.
Wir sind somit wieder beim Bild des MitM-Unternehmens angelangt. Durch die Auswahl und Konfiguration der eingesetzten technischen Systeme und devices steuert das Unternehmen, welche bits’n’bytes von Lohnabhängigen produziert werden und welche dabei anfallenden Informationen einzelnen Personen zugerechnet werden können. Die zur Kontrolle der Arbeitenden geeigneten
Daten fallen nicht einfach automatisch im auf die Produktion ausgerichteten Arbeitsverlauf an. Es braucht eine Unternehmensleitung, die zielgerichtet die Art, die Quantität und die Qualität der ihr zur Verfügung stehenden Daten festlegt, in dem sie eine gewisse digitale Arbeitsumgebung und ‑abläufe vorschreibt. Dabei wird naheliegender Weise nicht allein an die Notwendigkeiten der Produktion gedacht, sondern – je nach Interessen, gängige Praktiken und Managementkulturen – an die Bedürfnisse der H&R‑Abteilung, des Controlling, der Compliance, der IT usw.
Pointierter gesagt: Arbeitsorganisation wird so vorgeschrieben, dass die Lohnabhängigen mir jeder Operation selbst die Informationen zu ihrer Kontrollierbarkeit liefern, für die Reproduktion der herrschenden Reproduktionsverhältnisse.
Bild 4: Like Puppets on a String, die Dystopie
Fassen wir zusammen, was wir bis hierhin wissen, und stellen wir die Frage, was das im worst-case bedeuten könnte: Erstens bedeuten zugewiesene Arbeitsplätze und ‑geräte im digitalen Zeitalter, rundum in eine intransparente Man-in-the-Middle-Umgebung eingebettet zu sein.
Zweitens wissen wir, dass die digitalen Arbeitsumgebungen ständig Informationen über die in ihnen Tätigen sammeln. Die Arbeitenden produzieren einen Gutteil der exakten personenbezogener Daten sogar selbst. Die Summe der durch Messgeräte, Sensoren und die Aktionen der Arbeitenden anfallenden Daten sind darüber hinaus unmittelbar im Besitz des Unternehmens.
Aus diesen ersten Punkten folgt drittens, dass Daten jederzeit verknüpft und personenbezogen ausgewertet werden könn(t)en, ohne dass die Betroffenen etwas davon mitbekommen.
Viertens verstehen wir, dass Unternehmensleitungen die von ihnen beherrschte digitale Arbeitsumgebung gezielt so einrichten, dass Lohnabhängige nicht nur die für die Produktion von Waren und Dienstleistungen notwendigen Daten produzieren. Immer mer technische Systeme und Arbeitsabläufe haben nicht unmittelbar mit der Produktion zu tun sondern dienen der Überwachung, Kontrolle und Beherrschung der Arbeitenden.
Betrachten wir das alles fünftens im Angesicht jüngerer Entwicklungen wie data mining und big data. Was mit Datenbeständen, wie sie in modernen Unternehmen über Lohnabhängige anfallen, alles gemacht werden kann, ist schlechterdings nicht absehbar. Die vage Formulierung ist bewusst gewählt. Wir bekommen gesellschaftlich eben gerade erst eine Ahnung, welche Möglichkeiten data mining in riesigen Datenmengen bringen wird. Wir wissen, dass sie immens sein werden.
Bereits jetzt finden stochastische Modelle Anwendung, auf Basis derer Wahlverhalten prognostiziert werden, genauso wie deviantes Verhalten, psychologische Eigenheiten, Leistung- und Krankheitserwartungen je nach Veränderung der Arbeitsumgebung, … oder sehr früh die Schwangerschaft einer Lohnabhängigen, die von ihrem Glück selbst noch gar nichts weiß. Alles was es dazu braucht, ist nicht einmal big data sondern lediglich ein personenbezogen erfassendes Zutrittssystem mit Sensoren zwischen Arbeitsplatz und Toiletteanlagen und die Software, die Veränderungen in der Frequenz und Dauer des Aufs-Klo-Gehens mit dem Muster bei eintretenden Schwangerschaften abgleicht. Das ist nun nicht die Zukunft sondern seit zwei Jahrzehnten Realität.
Sechstens müssen wir uns vor Augen halten, dass detaillierte personenbezogene Daten Geld wert sind und dass Datensätze zu Personen weltweit gehandelt werden. Da z.B. Kundendaten regelmäßig verkauft werden, müssen wir im worst-case davon ausgehen, dass selbiges für die detaillierten Daten aus dem Arbeitsprozess gilt. Außerdem ist bekannt, dass Datenbestände mitunter verloren gehen können. Unternehmen tauschen untereinander Informationen über Lohnabhängige aus. Der Staat kann an die aussagekräftigen Daten kommen.
Die Frage ist also nicht, ob das passiert, sondern in welchem Ausmaß das die Regel wird: data mining unter Einbeziehung von „Arbeitswelt-Daten“ verknüpft mit Datenbeständen aus anderen Quellen. Besitzer_innen derart umfassender Datenbanken werden mehr über uns modellieren können, als wir über uns selbst wissen.
Siebentens sollten uns bewusst sein, dass all diese Möglichkeiten der Überwachung und Kontrolle das Geschäftsmodell boomender Branchen und Industrien sind. Eine Unternehmensleitung muss sich nicht selbst einfallen lassen, wie sie die digitale MitM-Umgebung eines Betriebs zur Kontrolle der Lohnabhängigen effizienter ausbauen könnte. Den Unternehmen werden von konkurrierenden Spezialist_innen immer ausgearbeitetere technische Systeme angeboten, Hardware ebenso wie Software. Parallel zu den neu entwickelten Überwachungs- und Kontrollwerkzeugen verändern sich Managementkulturen, verbreiten sich neue Philosophien der „workforce“-Überwachung, die auf z.B. auf die ständig fühlbar gemachte Präsenz des big boss is watching you setzen. Ein Zugang zu Management hat sich etabliert, der mittels Auswertung personenbezogener Daten zu einem ranking darauf setzt, pro Quartal die Mitarbeiter_innen in der unteren Dreierperzentile zu kündigen, um über den Weg die human ressources zu optimieren.
Schließlich ist achtens zu beobachten, dass rechtliche Rahmenbedingungen national, auf EU-Ebene und global (bzw. transnational) Schritt für Schritt unvorteilhafter werden, sei es für Bürger_innen oder Lohnabhängige. Im internationalen Vergleich haben die Beschäftigten in Österreich noch dazu am meisten zu verlieren. Sie haben bei Anpassungen an neue EU- oder globale Rechtsordnungen am meisten zu verlieren.
Es ist mit fortschreitender Aufzählung absehbar, was vom worst-case zu erwarten ist. Die Daten, die Arbeiter_innen weltweit selbst für ihre Kontrolle mitproduzieren, zementieren das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit weiter ein. Die gläserne Lohnabhängigen sind im großen Stil und bis zur einzelnen Person runtergebrochen ausrechenbar. Im Angesicht neuer mächtiger Überwachungs- und Kontrolltechniken bei im worst-case als beseitigt anzunehmenden rechtlichen Einschränkungen, gilt das von der Ebene der einzelnen Betriebsabteilung über die Größenordnung des transnational agierenden Konzerns bis hin zur gesamtgesellschaftlichen Dimension.
Lohnabhängige sind in der aus dem worst-case abgeleiteten Dystopie zu Marionetten degradiert bzw. auf den Wert digitaler Profile reduziert. Auf Basis ihrer Erwerbsabhängigkeit werden sie gezwungen, genau jene Daten selbst zu produzieren, durch sie vollständig überwachbar, aggregierbar und in Modellszenarien ausrechenbar sind.
Bild 5: Realität der Zustimmungspflicht
Der worst-case ist ein Gedankenexperiment. Die Realität sieht anders aus. In ihr haben Arbeitnehmer_innen Rechte. Sie haben Möglichkeiten, diese durchzusetzen. Wie sehen die Rechte, wie die Möglichkeiten aus?
Technische Systeme, die personenbezogene Daten verarbeiten und nicht unter die definierten Standardanwendungen fallen wie diese in der „Verordnung des Bundeskanzlers über Standard- und Musteranwendungen nach dem Datenschutzgesetz 2000“ festgeschrieben sind, müssen erstens im Datenverarbeitungsregister (DVR) gemeldet werden und sind zweitens, in Betrieben zwischen Arbeitnehmer_innen und Arbeitgeber, zustimmungspflichtig nach § 96 des Arbeitsverfassungsgesetzes.
„Folgende Maßnahmen des Betriebsinhabers bedürfen zu ihrer Rechtswirksamkeit der Zustimmung des Betriebsrates“, setzt Absatz (1) an, um in Zeile 3 aufzuführen, „die Einführung von Kontrollmaßnahmen und technischen Systemen zur Kontrolle der Arbeitnehmer, sofern diese Maßnahmen (Systeme) die Menschenwürde berühren“.
Der Einsatz von E‑Mail und Internet – beides berührt die Menschenwürde und bringt die technische Möglichkeiten zur Kontrolle durch den Arbeitgeber mit sich – ist also zustimmungspflichtig. Digitale Telefonsysteme, die Zeiterfassung, die Verwendung digitaler Personalakten, eine mobile Leistungserfassung, Videoüberwachung, auf Personendaten basierende Zutrittssysteme usw. … all das ist zustimmungspflichtig. Wer muss diese Zustimmung einholen und wer gib sie?
Wird ein personenbezogene Daten verarbeitendes System eingesetzt und es gibt keinen Betriebsrat im Betrieb, hat das Unternehmen die schriftliche Zustimmung von jeder einzelnen Arbeitnehme_in einzuholen. In vielen Betrieben geschieht dies auch, üblicherweise bei der Einstellung neuer Mitarbeiter_innen mit der Unterschrift unter den Dienstvertrag. Wird ein neues technisches System im Betrieb eingeführt, wird den Lohnabhängigen etwas zur Unterschrift vorgelegt, z.B. ein „code of conduct“, mit dem auch die Zustimmung zum Einsatz des Systems mitunterzeichnet wird. Unterzeichnen einzelne Mitarbeiter_innen dergleichen nicht, dürften ihre Daten im jeweiligen System nicht vorkommen und sie die Systeme nicht verwenden.
Gibt es einen Betriebsrat, müsste für zustimmungspflichtige technische Systeme eine eigene Betriebsvereinbarung (BV) zwischen Geschäftsführung (GF) und Betriebsrat (BR) unterzeichnet werden. Diese Betriebsvereinbarung, die es übrigens vor Einsatz solcher Systeme und auch schon für Probebetriebe geben sollte, regeln nicht nur die Zustimmung für die gesamte Belegschaft sondern halten auch vertraglich fest, wie ein technisches System im Betrieb eingesetzt wird, welche Daten erfasst werden dürfen, was mit ihnen geschehen darf, wer Zugang zu Auswertungen hat, wie in heiklen Fällen vorzugehen ist und über welche Instrumentarien der Betriebsrat als gesetzliche Vertretung der Beschäftigen seine Kontrollrechte umsetzen kann.
Freilich kommt es vor, dass technische Systeme in Betrieben ohne weitere Regelung und ohne Zustimmung im Einsatz sind. Diese dürften dann zwar nicht laufen, aber wo das nicht bekannt ist, oder wo das zwar bekannt ist, sich die Lohnabhängigen einzeln oder als Betriebsrat organisiert jedoch nicht durchsetzen, kümmert sich niemand darum, diese Systeme abzudrehen, bis ihr Einsatz für die Betroffenen zufriedenstellend geregelt ist. Das ist aber das Mittel, eine zufriedenstellende Regelung für alle zu treffen, mit der die spezifische Form des Ausgeliefertseins der gläsernen Lohnabhängigen möglichst vollends entschärft wird.
Lohnabhängige sollten sich aus ihrer prekären Situation heraus daher klären, (1) welche zustimmungspflichtigen technischen Systeme im Betrieb im Einsatz sind, (2) ob diese per Betriebsvereinbarungen geregelt sind, (3) wie diese Betriebsvereinbarungen und darin enthaltene Regelungen aussehen, (4) ob sie zufriedenstellend geregelt sind und (5) wie ihre Einhaltung im Fall des Falles kontrolliert werden kann.
Gehen wir davon aus, dass es einen Betriebsrat gibt. Er will eine Betriebsvereinbarung erreichen. Wie gehen die Mitglieder des BR vor, worauf sollte geachtet werden?
Es gilt, dass es die GF sein sollte, die einen Entwurf für eine neue BV dem BR vorlegt. Sie ist es, die das System einführen will. Vor Unterzeichnung der BV lehnt der BR die Inbetriebnahme des technischen Systems ab. Auch der Testbetrieb wäre abzulehnen, sollten reale Daten von Mitarbeiter_innen verwendet werden. Für den Testbetrieb sollte in dem Fall eine eigene BV denselben regeln, besonders die Frage, was nach Ablauf des Testbetriebs mit den Daten realer Mitarbeiter_innen geschieht.
Nehmen wir an, das neue System, das eingeführt werden soll, ist z.B. ein „SAP Enterprise Resource Planning (ERP) Core Human Resources“-System. Oder unser Unternehmen will eine Social Media Anwendung im Betrieb ausrollen, etwa Googles g+ oder Microsofts Yammer. Als BR sind wir von diesen Plänen vorab zu informieren und haben Anspruch auf die schriftlichen detaillierten technischen Beschreibungen des Systems, wie es nach Absicht der GF eingeführt werden soll.
Diese technischen Spezifikationen sehen die BR-Mitglieder genau durch, holen sich Unterstützung in der Beurteilung, suchen nach Erfahrungen in anderen Betrieben und formulieren dann Fragen, die sich aus den technischen Spezifikationen und für den Einsatz notwendigen Daten ergeben. Wahrscheinlich bekommt der BR eine Verkaufspräsentation des Systems angeboten, die vom Anbieter SAP, google oder Microsoft vorgenommen wird.
Parallel zur Überprüfung der technischen Spezifikationen bittet der BR die GF um eine schriftliche Präsentation, was mit dem System im Betrieb erreicht werden soll. Was ist der Zweck der Einführung? Dieser Punkt, die schriftliche Definition des Zwecks, ist äußerst wichtig, wie wir gleich sehen werden. Vom Zweck ist nämlich abzuleiten, ob er für den Unternehmenserfolg notwendig gerechtfertigt ist, ob er den Einsatz eines konkreten Systems und die Erfassung bestimmter personenbezogener Daten durch ihn gerechtfertigt sind, ob er nicht auch anders und mit gelinderen Mitteln erreicht werden könnte und, falls der Zweck tatsächlich die Erfassung und Speicherung personenbezogener Daten gerechtfertigt, wann diese Daten wieder gelöscht werden können bzw. gelöscht werden müssen.
Die Ziele des BR müssen sein, dass erstens so wenig personenbezogene Daten als möglich erfasst und wo immer möglich pseudonymisiert verarbeitet werden.
Zweitens sollte sichergestellt sein, dass einmal erfasste personenbezogene Daten bei erster Gelegenheit gelöscht werden.
Drittens sind technische Systeme und ihre Datenbanken so voneinander abzugrenzen, dass Verknüpfungen über ihre Datenbestände hinweg möglichst schwierig sind. Solche Auswertungen sind verboten, sie sollten also nicht zu einfach mit wenigen Operationen möglich sein. Es gilt Hürden einzubauen, nicht nur auf die rechtlichen vertrauend sondern technische einbauend.
Viertens sollte der BR die Kontrollrechte derart operationalisiert festschreiben lassen, dass sie der ungünstigen MitM-Ausgangslage zum Trotz und auch bei etwaigen Auslagerungen von IT-Dienstleistungen effektive Einsicht und guten Überblick ermöglichen.
Mit dem Hebel der gesetzlichen Vertretung der Interessen der Mitarbeiter_innen im Betrieb müssen wir danach trachten, präventiv die pathologischen Auswüchse eines „Datensammelwahns“, einer „Vorratsdatenspeicherung“ und einer „Rasterfahndung“ auszuschließen.