Nachdem es letztes Jahr nicht funktioniert hat, freu ich mich diesmal umso mehr, und zwar über den Rahmen: nämlich mit @ihdl und @annalist ein Panel auszurichten.
Noch feiner wäre nur gewesen, wenn @stalfel auch gekonnt hätte.
Ich freue mich auf die Auseinandersetzung, auf die Diskussion am
Mi, 8. Mai 12:30 — 13:30 im Saal 4 (und im Gefolge)
Di, 7. Mai 10:00 bis 11:00 im Saal 4 (und dafür mehr Zeit danach)
rund um die Kernthese:
Das Internet heizt sozialen Wandel an, ermöglicht neue soziale Bewegungen und ist damit auch eine Bedrohung für die herrschende Ordnung. Während Staaten, Sicherheitsapparate und Kapital immer konzentrierter versuchen, gesellschaftlichen Veränderungsdruck durch die Regulierung des Internets in den Griff zu bekommen, sind die sozialen Bewegungen gefordert, den Kampf um das offene Internet gemeinsam zu gewinnen.
Darüber, dass “das Internet” als Kommunikations- und Vernetzungstool, aber auch als Raum für Politisierung und Labor für alternative Gesellschaftsentwürfe eine erstaunliche Kraft entwickeln kann, müssen auf der re:publica nicht mehr viele Worte verloren werden. Wir wissen, dass das Internet selbst Gegenstand politischer Kämpfe ist. Dabei geht es darum, wie digitale Kommunikation reguliert werden soll und wessen Aufgabe das eigentlich ist. Es geht aber auch darum, welche Konsequenzen die Architektur des Internets für eine Gesellschaft hat, die zunehmend digitaler wird. Und immer häufiger wird die Frage gestellt, ob Internet-Aktivismus eine richtige politische Bewegung ist, und ob die Freie Software‑, die Commons‑, die Indignados- oder die Occupy-Bewegung usw. “richtige” politische Bewegungen sind, die nachhaltigen sozialen Wandel bewirken.
Aber wie hängen globale gesellschaftliche Veränderungen sowie die Renaissance sozialer Bewegungen einerseits und die Regulierung des Internets sowie die netzpolitische und die netzbasierte Facette des Netzaktivismus andererseits zusammen, das politische Engagement mit Hilfe und das politische Engagement für das Internet?
Wir möchten darüber diskutieren, welche Bedeutung das Internet für den strukturellen Wandel von Gesellschaft, für das politische System ebenso wie für das Politische hat. Sind Kämpfe ums Netz Kämpfe um gesellschaftliche Vorherrschaft? Werden Staaten, Sicherheitsapparate und Unternehmen das Internet in ihrem Sinne regulieren? Müssen sie das tun, um sozialen Wandel zu unterdrücken und die herrschenden Bedingungen zu sichern? Wie verhalten sich Kapitalismus, Kontrollgesellschaft, Cryptowars und Copyriot zueinander? Und wie ist es um die Kräfteverhältnisse in diesem Feld bestellt?
Das Internet bietet sozialen Bewegungen niedrigschwellige Werkzeuge und Plattformen. Social Media scheinen Verstärkungs- und Katalysatorwirkung zu entfalten. Diese funktionalen Aspekte vernachlässigen den Umstand, dass „das Netz“ seit gut 20 Jahren auch auf Vergesellschaftungsprozesse wirkt und zu neuartigen Vergesellschaftungsformen führt. Davon geben Begriffe wie New Economy, Web 2.0, die Rede von der „Cloud“, die Neukonnotation von Sozialen Netzwerken ebenso Zeugnis wie die Phänomene Wikipedia, Anonymous und Piratenparteien; aber auch #unibrennt, #Stuttgart21, #occupy …
Thesen und Aussagen
Der Vortragsteil war in drei Teile gegliedert. Zuerst ging es um die Perspektive auf das Thema, dh. um die reflektierende Frage, wie wir uns dem Phänomenen Social Media bzw. grundlegender “dem Internet”, und wie wir uns dem Begriff und Phänomen der sozialen Bewegungen nähern.
Für den Blick auf Thema, Phänomene und Fragestellungen habe ich sodann einen Vorschlag entwickelt, nämlich auf die potentiellen, die manifesten und latenten Einflüsse “des Internet” auf diverse Formen der Vergesellschaftung zu schauen (Folie 8).
Im zweiten Teil ging es um das Phänomen der Social Media. Social Media verstehe ich als einen Begriff für eine neue Form der Vergesellschaftung. Um diese Form von Arbeitsorganisation in ihrer Struktur, Systemlogik und ihren Auswirkungen einschätzen zu können, ist sie von der Arbeitsorganisation (Systemlogik, Struktur, ..) der Massenmedien zu unterscheiden. Im Zentrum beider steht die Verarbeitung, Bewertung, Kontextualisierung, Weiterleitung von Information. Wie wird nun durch das eine System, wie wird durch das andere System organisiert. Und welchen formenden Einfluss auf Vergesellschaftung nimmt die eine gegenüber der anderen Arbeitsorganisation?
Im dritten und zur Diskussion überleitenden Teil ging es um soziale Bewegungen, um eine Einordnung und Bewertung bekannter Bewegungen der Gegenwart und um eine Prognose, welchen weiteren Einfluss Internet und Social Media auf manifeste und latente soziale Bewegungen haben wird.
Der Vortragsteil schloss mit zwei Bemerkungen und Thesen:
Erstens, dass die strukturelle Notwendigkeit (der herrschenden Klasse), die sozialen Bewegungen in den Griff zu bekommen, eine grundlegende Ursache für die Bemühungen der herrschenden Klassen ist, das Internet zu regulieren, zu bändigen und dazu in der Architektur des Internets nachhaltig zu ändern.
Zweitens sehe ich, so meine These, eine latente globale soziale Bewegung immer häufiger an immer mehr Konfliktstellen manifest werden, ohne dass sie sich als breite soziale Bewegung schon ihrer selbst bewusst geworden wäre. Diese soziale Bewegung sehe ich nicht auf das Internet beschränkt — was immer das genau heißen sollte — und auch nicht allein durch das Internet verursacht. Vielmehr gehe ich von einer Annäherung alter und neuer und neuerster sozialen Bewegungen aus. Diese Annäherung hat mit parallelen Erfahrungen, geteilten Werten und dem Internet als Ursache für neue Formen der Vergesellschaftung “Soziale Bewegung” zu tun. Die geteilten Werte sehe ich in den Forderungen nach (1) offenen, chancengleichen Zugängen, (2) freier Information und Transparenz der Mächtigen sowie (3) gleichberechtigter Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen.
Ein neues Gespenst geht um in Europa, aber es ist nicht das des Kommunismus. Es hat bislang keinen Namen. Es ist noch nicht einmal ein ‑ismus, aber dafür existieren zahlreiche Bilder, die als Erscheinen und Umgehen des Gespensts interpretiert werden. Alleine 2011 sind unzählige Fotografien und Videobilder in Print‑, audiovisuellen und elektronischen Medien hinzugekommen. Die Bilder zeigen von protestierenden Menschen besetzte Plätze in europäischen Metropolen. Dieser Fülle an Bildern (pictures) steht entgegen, dass das Bild (image), das wir uns vom Gespenst machen, noch etwas schemenhaftes, flüchtiges hat.
Im Vorfeld des 15. Mai 2011 entstanden, verbreitet sich dieses knappe Manifest schnell via Internet und strahlt bis heute weit über die Grenzen Spaniens hinaus aus. Auf democraciarealya.es ist es in mehreren Sprachen nachzulesen.
Es gibt Manifeste, die diskutiert werden. Neben den Texten des Unsichtbaren Komitees: Der kommende Aufstand, Hamburg 2010 [frz. Orig. 2007] und Stéphane Hessels: «Empört Euch!», Berlin 2011 [frz. Orig. 2010] sei hier auf das «Manifiesto — ¡Democracia Real YA!» der spanischen Indignados-Bewegung verwiesen, die ihren Namen von Hessels Aufruf ableitet.
Was es nicht gibt, sind außer Streit stehende VordenkerInnen, die die Erscheinungen des neuen Gespensts so schlüssig zu erklären im Stande wären, dass wir von einem klaren Bild seiner Gestalt, Entstehung, Reichweite, Macht und Lebensdauer ausgehen könnten.
Aus der Perspektive gegenwärtiger Zeitgeschichte ist nicht auszuschließen, dass das, was heute als Gespenst erscheint, ex post nur als Phantasma bewertet wird. Davon wäre zu sprechen, wenn die aktuell im paneuropäischen kommunikativen Gedächtnis verankerten Begriffe «Syntagma», «S21», «indignados», «occupy» etc. ihre zentrale Position verlieren würden, ohne nachhaltig in das kulturelle Gedächtnis Europas eingearbeitet zu werden. ((Für die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis siehe Jan Assmann: «Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen», München 1992)) In der historischen Bewertung hätten wir es dann mit der Verdichtung eines allgemeineren Phänomens zu tun gehabt, das mit Judith Butler nüchtern beschreibbar wäre als:
„In the last months there have been, time and again, mass demonstrations on the street, in the square, and though these are very often motivated by different political purposes, something similar happens: bodies congregate, they move and speak together, and they lay claim to a certain space as public space. Now, it would be easier to say that these demonstrations or, indeed, these movements, are characterized by bodies that come together to make a claim in public space, but that formulation presumes that public space is given, that it is already public, and recognized as such.“ ((Judith Butler: Bodies in Alliance and the Politics of the Street. In: Transversal / EIPCP multilingual webjournal, 09, 2011))
Was ist es, das dieses Zusammenkommen von Körpern in der Wahrnehmung vieler zum Umgehen oder dem Phantasma eines neuen Gespensts macht? Wie verhalten sich die Körper, wie nutzen sie Raum, dass von diesem Verhalten auf die Emergenz einer “neuen Protestbewegung” geschlossen wird?
Für Prognosen und Bewertungen der längerfristigen und überregionalen Bedeutung ist es zu früh, erst recht für die Einordnung der Wirkung der Proteste in europäischen Innenstädten. Gegenwärtig ist festzuhalten: Sie werden als neuartig wahrgenommen. Die lokalen Protestbewegungen sind nicht als isolierte Phänomene einzelner Staaten und Städte erklärbar.
Zu Praktiken der Bewegungen zählen Blockaden und Besetzungen von Verkaufsräumen jener Konzerne und Banken, die von der Regierung weitreichende Steuererleichterungen oder Hilfspakete bekommen haben.
Nicht nur zentrale urbane Plätze, sondern immer neue Räume werden zu Schauplätzen von Besetzungen, die temporär alternative Nutzungen erzwingen und für die Dauer der Inbesitznahme zu Räumen offener und öffentlicher Versammlungen werden. Beispielhaft dafür sind die Besetzungen von Bankfilialien durch die UK-Uncut-Bewegung. «UK Uncut» steht für die seit dem Herbst 2010 in Großbritannien aktive Protestbewegung gegen die Steuererleichterungen für Reiche und Konzerne sowie gegen Kürzungen des Staates im Sozialbereich.
In einem globalen Lernprozess werden Protestpraxen, Techniken, Analysen, Ideologien und Bildsprachen entwickelt und weiter gegeben. Internet, Social-Media-Plattformen, Smartphones und neue Formen der Selbstorganisation spielen eine gewichtige Rolle neben bekannten Faktoren wie sozialer Ungleichheit, ökonomischen Bedingungen, politischer Repression.
Dem gegenüber steht die Aufrüstung der staatlichen und kommunalen Sicherheits- und Überwachungsapparate, die im gleichermaßen globalen Lernprozess Know-how im Umgang mit den neuen Protestbewegungen sammeln. All diese Faktoren werden in den Folgejahren des ereignisreichen Jahres 2011 relevant bleiben oder relevanter werden. Als Indikatoren für die Wahrscheinlichkeit kommender Aufstände sprechen sie für die Prognose, dass zentrale Plätze — und immer wieder neue Räume — auch weiterhin Schauplätze neuer Proteste in westlichen Metropolen sein werden.
Die Zeichnung des Gespensts der wütenden BürgerInnen
Neben den Bildern von Protestierenden und besetzten Räumen dominiert ein Bild die Wahrnehmung der neuen Protestbewegungen. Feuilleton und Medien im deutschsprachigen Raum geben dem Gespenst mit berechnender Vorliebe den Namen Wutbürger. In der Regel im Singular, männlich. Der Erfinder dieses Images, der Journalist Dirk Kurbjuweit, leitet 2010 seinen gleichnamigen Essay im Nachrichtenmagazin Spiegel mit dem Satz ein:
Die Schmähschrift zeichnet einen alten bürgerlichen, mit «Hass» erfüllten, von «nackter Wut getriebenen» Mann, der sich «laut brüllend» zu Wort meldet und «momentan alles dominiert». Orte, an denen dieser Wutbürger auftritt, um «momentan alles zu dominieren», nennt der Essay drei und diese nur beiläufig: Demonstrationen am Bauzaun in Stuttgart, die Münchner Reithalle anlässlich einer Veranstaltung mit Thilo Sarrazin und das Internet. Die Menge der Menschen, die Körper im öffentlichen Raum, ihre Verteilung, ihr Zusammenspiel und ihre Bewegungen kommen in der Beschreibung des neuen Phänomens nicht vor.
In den Wochen vor dem Erscheinen des Essays am 11. Oktober 2010 sind es regelmäßig Zehntausende, die in der rund 600.000 EinwohnerInnen zählenden Stadt Stuttgart Straßen und Plätze für sich einnehmen. Die Vorfälle des 30. September 2010 im Stuttgarter Schloßgarten gehen als «Schwarzer Donnerstag» in die bundesdeutsche Geschichte ein und machen Stuttgart zum Mediengroßereignis. Das Foto eines durchnässten älteren Herren, der von zwei anderen Männern gestützt wird, während Blut aus beiden zugeschwollenen Augen rinnt, ist in den Medien zu sehen und wird überregional zum Symbol sowohl für die Protestbewegung als auch für die Reaktion von Seiten der Staatsgewalt.
In den Tagen danach, den unmittelbaren Tagen vor dem Erscheinen des Artikels in der Zeitschrift, sprechen die VeranstalterInnen bei zwei Kundgebungen vor über Hunderttausend Protestierenden. Es ist nicht absehbar, wie viele es noch werden können. Die Menge der Protestierenden nimmt tendenziell zu, obwohl die Proteste seit Monaten andauern und die Beteiligung alle Erwartungen übertrifft. Das Phänomen entzieht sich der Berechenbarkeit. Die Protestbewegung fordert als unberechenbares Phänomen umso mehr Aufmerksamkeit ein, je länger die Menge der Personen, die sich den Protesten im öffentlichen Raum anschließen, sukzessive zunimmt. Während der repressive Staatsapparat mit seinen Mitteln reagiert, konstruiert der ideologische Staatsapparat diffamierende Images der Protestierenden und Lesarten der Proteste.
Das Bild spontaner offener Versammlungen, «wo vorher nichts war»
Ein Jahr vor den Höhepunkten der Stuttgarter Protestbewegung bietet das Phänomen der Studierendenbewegung #unibrennt ein ähnliches Bild. Fünf Wochen lang nimmt die Zahl der besetzten Hörsäle zu, bis ausgehend von der Uni Wien der gesamte deutschsprachige Raum erfasst ist.
An den Protestbewegungen von #unibrennt und von Stuttgart lässt sich exemplarisch analysieren, wie neue Bewegungen ihre eigenen taktischen Medien aufbauen, das Bildarchiv selbst verwalten, damit die Bilderhoheit gegenüber den klassischen Medien haben und so zu bedeutenden Standbeinen der Bewegung werden.
Im Spätherbst 2010 breitet sich eine Protestwelle mit Großdemonstrationen und Besetzungen von Verwaltungsgebäuden in Großbritannien aus. Nach dem 15. Mai 2011 ist in Spanien wochenlang unabsehbar, welches Ausmaß die Bewegung der Indignados erreichen wird. In England ist mehrere Tage nach dem Ausbruch der Krawalle in Tottenham am 6. August 2011 unklar, wie weit sich die Unruhen ausbreiten werden. In Griechenland kommt es bereits seit Ende 2008 mehrfach zu schweren, mehrwöchigen Ausschreitungen, die von Athen aus auf weitere Städte übergreifen. Zeitweise werden 600 Schulen und einige Universitäten, 2010 wiederholt Ministerien besetzt.
Sowohl die London Riots als auch die Unruhen in Griechenland wurden von zwei populären Internetphänomen begleitet, dem Athener «Riot Dog» mit eigener Facebook-Seite, Blogs und Youtube-Clips seit 2008 sowie dem «Photoshoplooter»-Meme während der Unruhen in England. Die Phänomene sind in ihrer Struktur typisch für die viral selbstorganisierte, ironische Aneignung von Bildern und Nachrichten. Dabei werden Bildmaterialien aus allen über das Internet zugänglichen Quellen bearbeitet oder neu kontextualisiert. Bilder werden über verschiedene Social-Media-Plattformen verteilt und neu konfiguriert weiter gegeben.
Alle diese Rebellionen erinnern – wie die Ereignisse am Tahrir in den Tagen nach dem 25. Januar 2011, im Capitol von Madison in Wisconsin in den Tagen nach dem 15. Februar 2011 oder bei Occupy-Wallstreet (#ows) in den Tagen nach dem 17. September 2011 – an Elias Canetti Schrift Masse und Macht:
„Eine ebenso rätselhafte wie universale Erscheinung ist die Masse, die plötzlich da ist, wo vorher nichts war. [..] Es ist eine Entschlossenheit in ihrer Bewegung, die sich vom Ausdruck gewöhnlicher Neugier sehr wohl unterscheidet. Die Bewegung der einen, meint man, teilt sich den anderen mit, aber das allein ist es nicht: sie haben ein Ziel. Es ist da, bevor sie Worte dafür gefunden haben.“ ((Elias Canetti: Masse und Macht [1960], Frankfurt am Main 1980, S. 14 u. 15))
Die so beschriebene Dynamik setzt voraus, dass das Ziel nicht von vornherein feststeht und dass es sich nicht um eine Versammlung von Menschen handelt, die Canetti als geschlossene Masse im Gegensatz zur offenen Masse bezeichnet. Ein gemeinsames Charakteristikum jeder Versammlungen von Menschen der neuen Protestbewegungen ist denn auch, dass sie offen und geduldig sind.
Die Versammlungen setzen auf das Zusammenströmen von Menschen und auf die Prozesse, die dadurch evoziert werden: die von den vor Ort Anwesenden selbstorganisierte Diskussion über ihre gemeinsamen Angelegenheiten und Anliegen.
„For politics to take place, the body must appear. I appear to others, and they appear to me, which means that some space between us allows each to appear. We are not simply visual phenomena for each other – our voices must be registered, and so we must be heard.“ ((Judith Butler: Bodies in Alliance and the Politics of the Street. In: Transversal / EIPCP multilingual webjournal, 09, 2011))
Die Körper sind zudem die Bedingung für die Bilder. Die Bilder der intervenierenden, sich Raum nehmenden Körper machen evident, dass hier außergewöhnliches passiert. Im digitalen Zeitalter erstreckt sich diese Sichtbarkeit auf das Internet. Bei der Verbreitung der Bilder sind mehrere Kanäle sinnvoll zu differenzieren:
professionelle Bilder aus Print und Fernsehen in Online-Medien,
Weiterleitung und Rekontextualisierung dieser Bilder aus professioneller Produktion via Social Media,
Amateurbilder,
Bilder von taktischen, in die Proteste eingebetten Medien,
Bilder, die vom professionellen Mediensystem aufgegriffen werden, weil sie in den Social Media des Internets zu einer Story werden,
Plattformen, die dem Spiel mit Bildern dienen und von denen sich virale Bilderserien und ‑themen in andere Kanäle einspeisen.
Die Asamblea, die Versammlung, ist ein konstituierendes Element, ebenso wie die Bedingung ihrer selbstorganisierten, basisdemokratischen Organisation; Menschen, die sich im gleichen Raum auf einander beziehen und den Prozess einer gemeinsamen Debatte beginnen. Dieses Element verweist nicht nur auf anarchistische und basisdemokratische Traditionen der neuen Bewegungen, sondern im gleichen Maße auf in Onlinekommunikation gelebte Praxen und die Netzkultur. Der Prozess, was in und mit Versammlungen passiert, wie lange sie andauern, obliegt der laufenden, selbstorganisierten Ausverhandlung der Anwesenden. Die Körper, die sich im Zuge der aktuellen Protestbewegungen zur gemeinsamen Versammlung zusammen finden, machen zudem sichtbar und vor Ort spürbar, dass sie bleiben, dass dem begonnene Versammlungsprozess und der Debatte keine Ablauffrist gesetzt wird. Damit bleibt offen, wie groß die Versammlungen und Massen werden.
Dass eine Gruppe mit ihren Körpern eine Versammlung im öffentlich zugänglichen Raum beginnt, ist, ebenso wie die Offenheit der Versammlung, nicht nur Einladung zur Teilhabe, sondern Bedingung für die Möglichkeit, dass eine kritische Masse zusammen finden kann, die Sogwirkung entwickelt. Eine weitere Bedingung beschreibt Canetti in seiner Autobiografie:
„Ich las im Kaffeehaus in Ober-St. Veit die Morgenzeitung. Ich spüre noch die Empörung, die mich überkam, als ich die ‚Reichspost’ in die Hand nahm; da stand als riesige Überschrift: ‚Ein gerechtes Urteil’“. Im Burgenland war geschossen, Arbeiter waren getötet worden. Das Gericht hatte die Mörder freigesprochen. […] Aus allen Bezirken Wiens zogen die Arbeiter in geschlossenen Zügen vor den Justizpalast, der durch seinen bloßen Namen das Unrecht verkörperte.“ ((Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-193, München/Wien 1980))
Die Empörung, von der Canetti schreibt, ist heute der verbindende Name der Indignados-Bewegung.
Rückkehr der Verbotsmasse als politische Kraft
Trotz allen zahlenmäßig großen Aktionstagen der neuen Protestbewegungen erscheint die Anzahl der Protestierenden auf den diversen Schauplätzen nicht außergewöhnlich hoch. Das Phänomen der Masse ist nicht nur nicht neu, große Massen sind in unserer europäischen Gesellschaft seit den 1930er-Jahren nicht mehr verschwunden. Die Faszination des neuen hatte sie im fin de siècle als Gustave Le Bons «Die Psychologie der Massen» 1895 erschien und noch in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Heute kommen bei Sportveranstaltungen, einem Karneval, der Love-Parade oder anderen Großveranstaltungen hunderttausende und Millionen Menschen zusammen.
Auch bei politischen Großkundgebungen gibt es immer wieder hunderttausende TeilnehmerInnen. Über Großdemonstrationen des Europäischen Gewerkschaftsbunds mit 300.000 TeilnehmerInnen wird dennoch medial kaum berichtet. Die Bilder wirken bekannt, beliebig und austauschbar: Die geordnete Großdemonstration ist kein überraschendes Phänomen und ruft kaum Reaktionen der staatlichen Repressions- oder Ideologieapparate hervor. Der Demonstrationszug findet im ritualisierten, durch die Konvention bestimmten Rahmen statt: angemeldet und mit vorstrukturiertem Zeit- und Ablaufplan, wie ein Event der Freizeitindustrie mit Ordnern, Uniformen, Fanabzeichen, klar begrenzt und abgrenzend. Die Machtdemonstration ist einschätzbar. Es ist nicht nur erwartbar, welche Räume genutzt werden, sondern wann der Demonstrationsauflauf abgezogen ist, ohne Spuren zu hinterlassen. An dieser Stelle sei erneut auf Butler verwiesen:
„We miss something of the point of public demonstrations, if we fail to see that the very public character of the space is being disputed and even fought over when these crowds gather.“
Wenn wir diesen Punkt sehen, sollten wir die daran anschließende Frage ebenfalls nicht übersehen. Wie weit geht in konkreten Fällen das Infragestellen, was wird nicht als strittig thematisiert, welche Vorstellungen und Konventionen werden auch im Streitfall reproduziert?
Vergegenwärtigen wir uns übliche, gewohnte, ergo ritualisierte Nutzungen zum Beispiel des Puerta del Sol in Madrid, so erscheinen folgende Bilder leicht vorstellbar: Der Platz leer. Der Platz bevölkert von strömenden TouristInnen oder KonsumentInnen. Der Platz temporär gesperrt und mit Feiernden befüllt – etwa im Zuge eines Stadtfests. Der Platz durch Wahlkampfwerbung vereinnahmt, durch Bühne und Publikum besetzt. Oder der Platz als Begegnungsraum und Bühne für all diese Nutzungen nebeneinander: TouristInnen, konsumierende Menschen, eine Kundgebung abhaltende Menschen und Ordnungskräfte. Diese Nutzungsformen sind bekannt, finden nach ausverhandelten Regeln statt und passen sich als nicht störend in unsere Wahrnehmung der Stadt wie in die Medienberichterstattung ein. Wenn beim Karneval oder der Siegesfeier nach dem Sportgroßereignis außerhalb dieser Rituale geltende Regeln verletzt werden, sind das im Rahmen des Festes keine Regelverletzungen.
Die Nutzung von Plätzen und Raum durch die neuen Protestbewegungen verläuft anders. Ablauf und Dauer der Versammlungen sind offen. Sie werden als neu und fremdartig wahrgenommen. Die menschlichen Körper und Einrichtungsteile wie Zelte drücken aus, dass sich hier Menschen Raum über die erwartbare, konventionelle Nutzung hinaus nehmen. Sie verhalten sich nicht als PassantInnen oder TouristInnen sondern nehmen den Platz in Besitz und verletzen bewusst die herrschenden Konventionen. In der Systematik Canettis sind die Asambleas der Indignados und der Versammlungen der Occupy-Bewegung Verbotsmassen. «Alle weigern sich zu tun, was eine äußere Welt von ihnen erwartet.» ((Elias Canetti: Masse und Macht [1960], Frankfurt am Main 1980, S. 14 u. 15))
Die Präsenz dieser sich unkonventionell verhaltenden Körper macht die in Streit gestellten Konventionen sichtbar, wodurch sie gleichzeitig thematisiert werden. Das «Handbuch der Kommunikationsguerilla» beschreibt das nicht nur als verfremdendes Spiel und als Verletzung der kulturellen Grammatik, sondern nennt solche Interventionen eine Technik im Arsenal politischer Handlungsoptionen. Durch die Anwendung dieser Technik in verschiedenen Städten und die Wiederholung über Tage, Wochen und Monate hinaus, wird aus der Verletzung der Konvention selbst eine neue Konvention.
Eine Demokratisierung der Plätze
Ist die Versammlung dadurch etabliert, dass Körper einen zentralen Raum in Besitz nehmen, verbleiben die Menschen auf dem Platz, übernachten dort und bauen ihre autonome Infrastruktur auf. Die Präsenz der in Alltagsroutinen interagierenden Körper illustriert, dass diese momentan Anwesenden die Regeln für diesen Geltungs-Raum bestimmen; sichtbar in ihrem diskutieren, kochen, essen, Vorräte verwalten, Interviews führen, Transparente fertigen, Bilder machen, in Medienzentren ein- und ausgehende Kommunikation organisieren, Müll entfernen, Plena abhalten und Beschlüsse fassen.
Die Gemeinde des Platzes (dēmos), bietet kaum das Bild eines Mobs, aber auch nicht das Bild einer einfachen, homogenen Masse. Die AktivistInnen organisieren das Gemeinwesen eines Platzes, differenzieren arbeitsteilig Funktionsbereiche aus. Es herrscht im wörtlichen Sinne Demokratie, nicht die abstrakte repräsentative Demokratie mit nationalstaatlichem Geltungsbereich, sondern vor Ort konkrete Demokratie in einem klar begrenzten Geltungsbereich.
Da die Bedürfnisse und Funktionen der wachsenden Gemeinde erfüllt und von der Bevölkerung des Platzes organisiert werden, bilden sich Gemeinwesen, kleine (Zelt-)Städte in den Städten aus. Der Raum ist gegliedert in Funktionsräume für Schlaf, Rückzug, medizinische Versorgung und Lager. Im Zentrum liegen die Räume für die Plena, das Forum für die basisdemokratische Debatte der öffentlichen Angelegenheiten. Daneben existieren Begegnungsräume für distanziertere, beobachtende Partizipation an den Debatten, Anlaufstellen für die Informationsverteilung am Platz, Kommunikations- und Medienzentren mit eigener technischer Infrastruktur, eigenen MedienaktivistInnen und eigener Pressearbeit sowie Rückzugsräume für Bildungsaktivitäten, Workshops, Besprechungen, die Ausarbeitung. Derart selbstorganisierte Plätze inmitten zentral gelegener öffentlicher Räume, sind ein Labor dissidenter Selbstorganisation als Stätten, auf denen Widerstand als alltägliche Praxis demonstriert wird.
Das wichtigste ist Kommunikation. Die längere Besetzung der Plätze dient mehr der Debatte, der prinzipiellen Diskussion gemeinsamer Angelegenheit, als der Kundgebung. Von den besetzten Plätzen wie von umkämpften Räumen ist immer wieder zu hören, dass es den AktivistInnen nicht darum geht, mit dem einen oder anderen Anliegen gehört zu werden.
Ziel der Protestbewegungen ist so gut wie nie, in Verhandlungen mit politischen EntscheidungsträgerInnen zu kommen. In den Versammlungen wird mit Politik selbst experimentiert und von Beginn an ein explizit anderer Politikbegriff in den Mittelpunkt gestellt. Im Zentrum dieses Begriffs steht die gemeinsame, inklusive und offene Debatte im öffentlichen Raum. Die Versammlungen, die in Besitz genommenen selbstverwalteten Plätze, die selbstorganisierten alternativen Nutzungen der Räume sind radikale Gegenentwürfe. Die BesetzerInnen wenden sich nicht an das politische System, sondern wenden sich vom politischen System ab.
Es ist ein sich wiederholendes und auf den Plätzen immer wieder konkret erfahrbares Missverständnis, Debatte hier als Diskussion einer Sachfrage zu verstehen, die möglichst effizient, schnell und durch eine Abstimmung legitimiert, zu einem Ergebnis gebracht werden soll. Dieses Missverständnis kommt von außen und illustriert, wie unvorstellbar und strittig es heutzutage ist, das Ideal attischer Demokratie aus dem Kanon der Schulbildung in die praktische Erfahrung der postdemokratischen Stadt zu übertragen.
In der medialen Verbreitung dominieren neben den Bildern manifester Konflikte zwischen AktivistInnen und Sicherheitskräften jene, die einen mit Körpern übervollen Platz zeigen. Diese Bilder zeigen nicht die Alltagssituation auf eben denselben Plätzen. Das symptomatischere Bild für das neue Gespenst ist der Live-Stream der stundenlang andauernden Debatte eines offenen Plenums. Ein beschreibendes Bild sind die Infotische und Anschläge mit den Zwischenständen von Debatten und Arbeitsgruppen. Bezeichnend sind die Innenleben der IT-Zelte und eigenen Medienzentren, die Kontenpunkte, über welche die lokalen Debatten mit jenen auf anderen Plätzen und in anderen Räumen verbunden sind.
Ein Merkmal der neuen Protestbewegungen ist die Besetzung von zentralen Plätzen und neuralgischen Räumen, um eben diese Räume als Stätten für öffentliche Debatten zu öffnen. Der Raum wird geöffnet für die gemeinsame Debatte der Angelegenheiten aller. Die Versammlungen sind inklusiv und unbestimmt. Sie setzen die hierarchischen, exkludierenden Regeln herrschender politischer Meinungsbildung außer Kraft. Sie sind Versuche eines herrschaftsfreien Diskurses.
Das Bild des Wutbürgers zeichnet ein gegenteiliges Bild. Der Körper des Wutbürgers ist durch Wut verzerrt, blind vor Wut und gilt als unberechenbar. Die Konstruktion und breite Perpetuierung dieses Images wirft ein treffendes Licht darauf, dass die herrschende Klasse besorgt ist und vor den offenen Versammlungen Angst hat. Der öffentliche Raum könnte — wieder — Brennpunkt politischer Debatten werden, die von Beginn an abseits des etablierten politischen Systems stattfinden und in ihrem Ablauf und ihrer Sogwirkung tatsächlich unberechenbar sind.