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Wo is n jetzt die verfickte Pietät?

Boy oh boy, der Wahlkampf ’08 hat web2.0 in Öster­re­ich ja einen ziem­lichen Boost ver­schafft. Aber für die Ankurbelung von Ver­net­zung und traf­fic in den schö­nen web2.0‑Strukturen, hey, da geht doch nichts über den Helden­tod eines Volk­stri­bunen, ha? Oder? Ha?
big-time-boost!!

War’s ein Atten­tat? Und wenn, wer war’s? Mossad? Raif­feisen? Die Ostküste?

Oder müsste man gut 180km/h mal 1.8 Promille (das treibt den Evil Kniev­el-Quo­tien­ten auf stolze 330) bei einem 58jährigen Pen­sions­berechtigten eher Selb­st­mord nen­nen?

Wie ist der Verunglück­te posthum zu würdi­gen?

Hab ich in meinem Post­ing, Kom­men­tar oder Blog­a­r­tikel auch sich­er irgend­wie die Notwendigkeit der Pietät einge­baut?

Hab ich eh nicht vergessen, der Fam­i­lie des Verunglück­ten in jedem hin­ter­sten Eck von wordpress.org, twit­ter, derstandard.at und weiß­got­tnochwo meine Anteil­nahme zu ver­sich­ern?
Hey, sie werden’s sich­er lesen und sich freuen!

Wer hätte das gedacht, das schnuck­lig-verträumte Öster­re­ich, diese Hochburg des mor­biden Katholizis­mus wird über­schwemmt von einem unge­heuren Kon­for­mitäts­druck zur pietas. Das Volk der Aus­tri­ark­er kon­vertiert ein halbes Jahrtausend nach der Gegen­re­for­ma­tion zum Pietismus und hebt damit auf einen Schlag seine moralis­che Über­legen­heit in schwindel­nde Höhen.
Steine und Äch­tung!” für alle, die hierin Big­ot­terie ent­deck­en. 😳

Ein Monument für das kollektive Gedächtnis

Herrschaft­szeit­en, jet­zt ist mal was los.
Wir wer­den noch in 10 Jahren zurück­denken — und la mass­me­dia wird zum Anlass son­der­senden — und uns fra­gen, was ist den da passiert und los gewe­sen?

Da dastesst sich der ‘Karawanken Dr. No’ mit seinem Phaeton und was passiert? Es gibt ein kollek­tives Nach­holen des Som­mer­märchens, das Öster­re­ich schon so lange ver­wehrt blieb. Ein ganz Öster­re­ich und alle Men­schen erfassendes Event! So wie Deutsch­land vom Som­mer­märchen 2006 erfasst wurde und was in Öster­re­ich zur Euro lei­der aus­blieb: umfassende Emo­tion­al­ität!

(via elek­trob­abe)

Notge­drun­gen läuft das in Öster­re­ich anders als beim deutschen Som­mer­märchen 2006. Die Welle der Emo­tio­nen rollt hier nicht anlässlich ein­er Fuss­ball-WM. Und was da rollt, das ist nicht glück­selige Begeis­terung und ‘Wir sind Deutsch­land’-Emo­tion.
Aber die Gefüh­le sind ähn­lich tief und aufwüh­lend. Der kollek­tive Druck, einzus­tim­men und die Stim­mung nicht zu verder­ben ist ähn­lich hoch. Das Erleb­nis der Verbindung mit den anderen, dieses Gefühl des gle­ich­schwin­gen­den Kollek­tivs, das Wir-Erleb­nis, das ist nach dem gle­ichen Muster gestrickt. Und die medi­ale Insze­nierung und Ver­stärkung laufen genau gle­ich ab.

Freilich, das ist Öster­re­ich. Mit Fuss­ball ist da kein großes Wir-Gefühl zus­tande zu brin­gen. Und wenn “Öster­re­ich” mal Lit­er­aturnobel­preisträgerin wird, also das geht in ein­er Garten­zw­er­gre­pub­lik gar nicht; bzw. nach hin­ten los.
Aber kleine Natio­nen haben einen großen Hang zur Tragik. Öster­re­ich hat eine Tra­di­tion des Mor­biden. Und auch abseits dieses Mythos, der Tod und das Todenge­denken hat immer schon und über­all eine zen­trale Rolle in der Organ­i­sa­tion des kul­turellen Gedächt­niss­es gespielt.

Und darum geht’s hier ja wohl. Nicht um den Volk­stri­bun, nicht um seine Fett’n und seine Phaeton, nicht um ein Ver­mächt­nis, das dem tat­säch­lichen Leben und Wirken des Verun­fall­ten zu tun hätte, son­dern um das Ver­mächt­nis, das jet­zt gestrickt wird.

Das ist eine große Sache. Jede und jed­er kann mit­machen. Und in 10 Jahren zurück­denken und sagen, ich war dabei. Damals, als der Haider sich da’stessn hat und was los war in Öster­re­ich.

Die Identifikation mit dem Happening

In den let­zten Tagen häufen sich wenig­stens die geäußerten Ver­störun­gen über die Aus­maße, die das annimmt. Der öster­re­ichis­che Altweiber­som­mer­traum, so zu sagen. ‘Wir sind Jör­gi’.

Jörg’ war ja immer schon eine Marke, das heißt bald nach 1986. Aber jet­zt wo Jörg sel­ber nicht mehr an der Marke basteln kann, jet­zt gehört sie anderen und wird noch viel größer. ‘Jörg’: das ist “unser Lebens­men­sch”. ‘Jörg’: das unver­gle­ich­liche Tal­ent, der Verän­der­er von Öster­re­ich, der Kämpfer gegen den Pro­porz, die Etablierten und die große Koali­tion. (Hum­bug zwar, aber wen küm­mert das. Coca Cola hat ja auch nichts mit “Frei­heit” zu tun und wird erfol­gre­ich damit kon­notiert.)

Vor allem muss ‘Jörg’ groß gewe­sen sein, weil wie wäre son­st das alles zu erk­lären, was da jet­zt an kollek­tiv­er Ergrif­f­en­heit abge­ht.

Die Reak­tion auf Haiders Tod ist ein soziales Phänomen, das wir analysieren müssen. Diese Hys­terie ist eine War­nung. Ihre Gefühlswucht macht im ersten Moment nachger­ade fas­sungs­los. […] Zweier­lei ist denkbar. Entwed­er es gibt eine Iden­ti­fika­tion mit dem Angreifer. So erk­lärt die Psy­cho­analyse die para­doxe Sym­pa­thie, die Opfer von Gewalt mitunter für die Täter fühlen. Das scheint fraglich, denn Basis dieses Mech­a­nis­mus ist ein Gefühl großer Ohn­macht, die im Fall der Kri­tik an Haider nicht gegeben war.

Nope, ich hab da einen anderen Zugang, einen anderen Erk­lärungsansatz. Siehe oben, Stich­wort ‘Som­mer­märch­ene­uphorie’ bzw. ‘Altweiber­som­mer­trauer­spiel’.

Um das, was da abge­ht zu ver­ste­hen, braucht es keine Analyse der Marke ‘Jörg’ und auch keine Psy­cho­analyse der öster­re­ichis­chen Seele. Das aktuell stat­tfind­ende Hap­pen­ing hat vor allem nicht viel damit zu tun, was der ‘Jörg’ irgendwelchen Men­schen bedeutet hat. (Klar, das spielt wohl mit, reicht aber als Erk­lärung nicht aus.)
Es hat viel mehr mit der Dynamik des Hap­pen­ings selb­st zu tun, mit der Eigen­dy­namik der kollek­tiv­en Betrof­fen­heitswelle.

Betroffenheitswelle lädt zum Surfen ein

Wie son­st ließe sich erk­lären, dass seit let­zter Woche mar­o­dierende Hor­den von SurferIn­nen durch das WWW ziehen und herum­suchen, um Orte aus­find­ig zu machen, wo irgen­det­was über des ‘Jörg’ Tod geschrieben ste­ht?
Diese Suche hat nichts mit der eige­nen Betrof­fen­heit zu tun, son­dern mit der Sehn­sucht nach dem großen Ereig­nis in der eige­nen kleinen Welt. Mit jedem Satz,

unsere Gedanken haben bei der Fam­i­lie und der Mut­ter zu sein

und mit jed­er gele­sen Forderung nach Pietät steigert sich das Gefühl der Wichtigkeit des Ereigniss­es. Und es steigert sich das Gefühl, dass man jet­zt selb­st irgend­wo Pietät ein­fordern kann. Moral ein­fordern. Andere kon­trol­lieren. Wichtig sein. Lust an der struk­turellen Gewalt haben, die da durch eine absurde Kon­ven­tion immer mehr und ins Absurde aufge­baut wird.

Hehe, da soll nur wer was falsches schreiben, dann poste ich die Pietätskeule. Na warte nur. 😈

Und weit­er durchs WWW gesurft, es ist was los. Man muss der Fam­i­lie das Beileid aussprechen und kon­trol­lieren, ob alle der Fam­i­lie das Beileid aussprechen.
So war s ja immer schon. Als Dou­glas Adams gestor­ben ist, da ist im Netz über­all sein­er Fam­i­lie gedacht wor­den. Als der Sinowatz Fre­di von uns gegan­gen ist, haben wir nicht alle seinen Ange­höri­gen gedacht? Nach­dem vorgestern an zwei Stellen im 2. Bezirk an ver­schiede­nen Stellen Rad­fahrerIn­nen von LKW’s niederg­erollt wur­den, haben da nicht auch alle geschrieben und gepostet, was für ein tragis­ch­er Unfall das nicht jew­eils war?

Pietät in die let­zten Ritzen eines alpinen WWWs zu schreien
und alles nach Ver­stößen gegen die Pietät­sor­d­nung zu durch­suchen
und dro­hend Ergrif­f­en­heit ein­fordern
… aaaaah­h­hh … was für Ham­pelmän­ner 😆

alors, ich muss jet­zt. Muss aufhören und wieder durch’s WWW streifen. Auf der Pirsch nach Pietät­sor­d­nungsver­let­zern. Abmah­nen. Abmah­nen. Abmah­nen.

Hier übri­gens der — wie ich finde — beste Beitrag zur Trauer­be­wäl­ti­gung so far:

Ein Volk trauert um seinen Führer

… und nach­dem der tragisch sich dastessen habende, abge­tretene Volk­stri­bun nun dem Ulrichs­berge übergeben wurde, lasst uns Mut fassen und im Gedenken fröh­lich sein.

dem Andenken gewid­met. & welche Weise kön­nte hier passender sein:

httpv://de.youtube.com/watch?v=gViaOYgV8yI

ps: Ich habe mich selb­st aufrichtig befragt. Ja, ich wäre auch pietätvoll gewe­sen. Pietät sehe ich als etwas, das sich nur in konkreten Hand­lun­gen gegenüber konkreten Men­schen im direk­ten Kon­takt aus­drück­en kann.

Und ja, wäre mir des Haider Jörgs Mut­ter in den let­zten Tagen über den Weg gelaufen, ich hätte es mir ver­bis­sen, Sie zu fra­gen, was ihr denn so gefall­en hat an der Naz­izeit.
Das hätte ich mir dieser Tage aus Pietät ver­bis­sen, obwohl ich sie das früher schon gefragt hätte, hät­ten wir uns getrof­fen.
Ja, das ist Pietät.

pps:

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2 Antworten auf „Wo is n jetzt die verfickte Pietät?“

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