Wer könnte unter dieser Überschrift anderer zu erwarten sein als der Foucault Michel.
Also wieder ein Anlass evoziertes Sonntagszitat.
Am 25. Juni jährte sich sein Todestag zum 24ten mal, bereits ein Vierteljahrhundert also müssen (u.a.) die Sozialwissenschaften ohne neue Interventionen durch diesen Unbestechlichen, Philosophen, Psychologen, Historiker, Samurai, Rebellen, Empiriker, Archäologen und Forensiker, Vortragenden, Kritiker, Lehrer, Ideengeber, Theoretiker, … auskommen;
und ein Vierteljahrhundert arbeiten wir uns quer durchs Gemüsebeet schon an seinem Werk ab und das Werk wird noch lange ausreichend Widerständigkeit an den Tag legen, dass ein Ende des Abarbeitens nicht abzusehen ist.
Hier zwei kurze Passagen aus dem Werk:
Die Macht gibt es nicht. Ich will damit folgendes sagen: die Idee, das es an einem gegebenen Punkt irgendetwas geben könnte, das eine Macht ist, scheint mir auf einer trügerischen Analyse zu beruhen und ist jedenfalls außerstande, von einer beträchtlichen Anzahl von Phänomenen Rechenschaft zu geben.
Bei Macht handelt es sich in Wirklichkeit um Beziehungen, um ein mehr oder weniger organisiertes, mehr oder weniger organisiertes, mehr oder wenger pyramidalisiertes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel an Beziehungen. Folglich besteht das Problem nicht darin, eine Theorie der Macht zu begründen, der die Aufgabe zukäme, zu wiederholen, was schon ein Boulainvilliers oder aber ein Rousseau hat machen wollen. Beide gehen von einem Urzustand aus, in dem alle Menschen gleich sind, und dann – was passiert dann? Ein Einbruch der Geschichte für den einen, das mythisch-juridische Ereignis für den anderen – was auch immer man bevorzugt, stets läuft es so: von irgendeinem Zeitpunkt an haben die Leute keine Rechte mehr gehabt, und die Macht war da.
Wenn man versucht, eine Theorie der Macht aufzustellen, wird man immer gezwungen sein, sie als an einem gegebenen Ort, zu einer gegebenen Zeit auftauchend anzusehen, und man wird genötigt sein, ihre Genese aufzuzeigen und dann ihre Deduktion vorzunehmen. Wenn aber die Macht in Wirklichkeit ein offenes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Beziehungen ist, dann stellt sich nur das Problem, ein Analyse-Raster zu schmieden, das eine Analytik der Machtbeziehungen ermöglicht.
aus: Foucault, Michel (1978):
Dispositive der Macht, S. 126–127
und:
In Wirklichkeit lautet die Frage, von der ich Ihnen sprechen wollte und sprechen will: Was ist Kritik? [..]
[..] Es gibt etwas in der Kritik, das sich mit der Tugend verschwägert. Ich möcht Ihnen gewissermaßen von der kritischen Haltung als Tugend im allgemeinen sprechen.
Es gibt ziemlich viele Wege, um die Geschichte dieser kritischen Haltung zu schreiben. Ich möchte Ihnen hier einen möglichen Weg vorschlagen – der von der christlichen Pastoral ausgeht. Die christliche Pastoral bzw. die christliche Kirche, insoferne sie eben eine spezifisch pastorale Aktivität entfaltete, hat die einzigartige und der antiken Kultur wohl gänzlich fremde Idee entwickelt, daß jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bid ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse: daß es sich zu seinem Heil lenken lassen müsse und zwar von jemanden, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei. [..] Man darf nicht vergessen, daß es die Gewissensführung war, die man jahrhundertelang in der griechischen Kirche techne technon und in der römischen Kirche ars artium nannte: es war die Kunst, die Menschen zu regieren. Gewiß ist diese Regierungskunst lange Zeit, auch noch in der mittelalterlichen Gesellschaft, relativ beschränkt geblieben .. .
Aber ich glaube, daß es vom 15. Jahrhundert an, bereits vor der Reformation, eine wirkliche Explosion der Menschenregierungskunst gegeben hat – Explosion in einem zweifachen Sinne.
Zunächst ist diese Kunst über ihre religiöse Herkunft hinausgegangen: sie hat sich also laisiert und in der zivilen Gesellschaft ausgebreitet. Sodann hat sich diese Regierungskunst in den verschiedensten Bereichen vervielfältigt: wie regiert man die Kinder, wie regiert man die Armen und die Bettler, wie regiert man eine Familie, ein Haus, wie regiert man die Heere, wie regiert man die verschiedenen Gruppen, die Städte, die Staaten, wie regiert man seinen eigenen Körper, wie regiert man seinen eigenen Geist? Wie regiert man? – ich glaube, daß das eine der grundlegenden Fragen des 15. und 16. Jahrhunderts gewesen ist. [..]Doch kann von dieser Regierungsentfaltung, die mir für die Gesellschaften des europäischen Abendlandes im 16. Jahrhundert charakteristisch erscheint, die Frage, “wie man denn nicht regiert wird”, nicht getrennt werden. .. Ich will sagen, daß sich in jener großen Unruhe um die Regierung und die Regierungsweise auh die ständige Frage feststellen läßt: “Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?”
Wenn man diese Bewegung der Regierbarmachung der Gesellschaft und der Individuen historisch angemessen einschätzt und einordnet, dann kann man ihm, glaube ich, das zur Seite stellen, was ich die kritische Haltung nenne.
Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, … ist damals in Europa eine Kulturform entstanden, eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne:
die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.
aus: Foucault, Michel (1992 [1990]):
Was ist Kritik?, S. 7–12
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[audio:http://gffstream‑8.vo.llnwd.net/c1/m/1245743230/radio/zeitzeichen/WDR5_Zeitzeichen_20090625_0920.mp3]
aus der WDR podcast Reihe ZeitZeichen (thx to Karl H. Schönswetter)
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Eine Antwort auf „SoZi 26|09: Die Macht und die Kritik“
[…] Kritik, Engagement für die “Verbesserung der Umstände“, solche Peinlichkeite sind mit […]