Das Sonntagszitat noch einmal als Fortsetzung des SoZi 19|09 und des Feiertagszitats 21|09 zur Gruppensoziologie. Allerdings gibt es noch nicht, wie eigentlich anvisiert und angekündigt, Zitatstellen zur “Gruppe zweiter Ordnung” sondern zuvor noch Passagen aus dem Kapitel:
5. Exkurs über “Gruppen-Tabus” und Gruppenselbstbetrug
Die Analyse einer sich zusammenfindenden und dann aufbauenden Gruppe, dann der gruppe in Aktion, bis zum möglichen Zerfall deckt eine Fülle von Feinverläufen auf, durch die Mitgliedsanwärter zu Gruppenmitgliedern, eine Versammlung von Anwärtern zu einer Gruppe gemacht werden. Von diesen Vorgängen treten einige bestimmte durchaus in deas Bewußtsein der Gruppe, das heißt, sie werden von den Gruppenmitgliedern als “Gruppe” registriert. Andere werden nur von einzelnen Mitgliedern bemerkt. Ene weitere Reihe von Prozessen wird “verdrängt”, darunter wiederum bestimmte stärker “tabuisiert”.
Tritt ein – zukünftiges – Mitglied in eine bereits bestehende Gruppe ein, dann registrieren einerseits die anderen durchaus genau, wer sich ihnen hier wie “vorstellt”. [..] Auch der dann erfolgende Angleichungsvorgang entzieht sich nicht ganz dem Bewußtsein des Neulings. [..] Das Bewußtsein von Machtlosigkeit oder von Einfluß im Gruppenprozeß kann durch aus relativ wach sein. Kleine Differenzen zwischen dem Binnenselbstverständnis der Gruppe und deren Außendarstellung werden der Aufmerksamkeit aller auch nicht entgehen; die Rollenverteilung wird im Prozeß der Bildung eines Rollengefüges beachtet und beobachtet; Solidarität wird bewußt erlebt; Gruppenerfolg freudig registriert; Spaltungstendenzen können und werden meist die Aufmerksamkeit steigern; eine praktisch geschehene Spaltung erzeugt höchste Wachsamkeit.
Und dennoch deckt sich der Schleier einer zunehmenden Tabuisierung von Anfang an über das Gruppengeschehen:
[..] Was da ausgeklammert, das heißt, was praktisch verdrängt wird, wird dem Untersuchenden deutlich, wenn er Gruppenmitglieder auf solche – zwangsläufigen – Prozesse aufmerksam macht. Ihm schlägt meist – mindestens zuerst – eine Welle von Ablehnung und/oder Mißtrauen entgegen. Sie zeigt, welch hohen Grad an Selbstverständlichkeit fundamentale und unabweisbare Prozesse in der Gruppe haben. Analog der “kulturellen Selbstverständlichkeit” in ganzen Gesellschaften/Kulturen, denen das Sprechen in “ihrer” Sprache, das Verhalten nach “ihren” Wertvorstellungen und Normen in “Fleisch und Blut” übergegangen ist, trifft der Hinweis darauf auf entsprechende Verwunderung und Ablehnung, wird häufig sofort und oft wortreich verdrängt. Gleiches gilt für die weiteren Gruppenprozesse, und zwar in zunehmenden Maße mit der Konsolidierung der Gruppe. [..]Vehikel dieser Tabuisierungs-Prozesse ist in der Gruppe, wie allen anderen sozialen Formationen, bis hin zu den größten, die Mehrheitsbildung: Hat erst eine Mehrheit “eine Meinung”, dann hat auch die Minderheit diese Meinung zu vertreten, und überhaupt der einzelne. Ein “Terror der Mehrheit”, wie ihn Alexis de Tocqueville als bedeutende Gefahr für Demokratie warnend sah, ist für Gruppen konstitutiv! [..]
Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist heute eine psychische, gesellschaftliche und politische Notwendigkeit. Probleme mangelnder Konfliktfähigkeit des einzelnen und Vereinzelten können in der kleinen Gruppe gelöst werden, Einsicht in Art und Weise des eigenen Verhaltens und seine Wirkungen auf andere kann gewonnen werden, Solidarität kann geübt werden, ein ungesichertes Identitätsverhältnis zu sich selbst kann der einzelne in der Gruppe stabilisieren; zudem ist eine Gruppe u. U. leistungsfähiger als eine Anzahl einzelner. Gerade die großen Möglichkeiten der Gruppe können aber auch der Entwicklung ihrer Mitglieder entgegenstehen. Der in der Gruppe zwangsläufig entstehende Homogenisierungsdruck, die einsetzende Angleichung von Meinungen, Haltungen, Ausdrucksformen, sie können dazu führen, daß sich die Gruppe – sofern das möglich ist – unmerklich von der Realität entfernt und ihre Pseudorealität selbst aufbaut. Je weiter dieser Prozeß, der hier mit “Gruppen-Selbstbetrug” bezeichnet werden soll, fortschreitet, desto empfindlicher wird die Gruppe, werden die Gruppenmitglieder gegenüber der Aufforderung reagieren, objektive Realität zu akzeptieren, sich an der Realität zu messen. Über Abwehrhaltungen kann in einer Gruppe schnell Einigkeit erzielt werden, oft auch ohne Worte: Scheinen die Interessen aller berührt zu sein, bedarf es keiner Abstimmung, die Übereinstimmung ist einfach da. Da solche Abwehrhaltungen auch zugleich Investitionen bedeuten – so wie die Anstrengung des Verdrängens überhaupt –, sind sie um so schwieriger abzubauen, je länger sie sich verfestigt haben.
Claessens, Dieter (1995 [1977]):
Gruppe und Gruppenverbände. Systematische Einführung in die Folgen von Vergesellschaftung
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