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FeZi 21|09: Die Bezugsgruppe

Etwas außer­halb der Rei­hen­folge gibt es hier­mit ein “FeZi”. Statt des Son­ntagsz­i­tats also ein Feiertagsz­i­tat. Let­zten Son­ntag habe ich aus­ge­lassen, obwohl schon klar war, dass ich mit der Grup­pen­sozi­olo­gie Claessens fort­set­zen wollte.

Die im SoZi 19|09 zur ’sozialen Gruppe’ begonnene Minis­erie wid­met sich heute der Bezugs- und der Ori­en­tierungs­gruppe. Die im SoZi 19|09 dargestell­ten struk­turellen Zwänge gel­ten weit­er und müss(t)en für diese Fort­set­zung der The­matik eigentlich weit­er gedacht wer­den. ((ps: dieser Ein­trag zur Bezugs­gruppe passt nicht nur als Kom­men­tar zur ‘Grü­nen Vorwahlen’-Initiative wie das let­zte SoZi son­dern erst recht:
All­ge­mein auf unsere aktuelle gesellschaftliche Sit­u­a­tion und im Speziellen auf die Parteien­mo­bil­isierun­gen und ‑demo­bil­isierun­gen. Das poli­tis­che Feld ist voller Grup­pen, die sich abgren­zen müssen, an einan­der ori­en­tieren und sowohl koalieren als auch im Stre­it miteinan­der liegen.))
Mit dem näch­sten SoZi möchte ich mich dann der Grup­pen zweit­er Ord­nung zuwen­den.

Bezugsgruppe

c) Stag­na­tion, Zer­fall, Spal­tung, Polar­isierung
Stag­na­tion ist ein Prozeß. Seine eine Seite erscheint als Sta­bil­isierung auf einem erre­icht­en Niveau der Inter­ak­tion. ((Merke, merke, merke: Sta­bil­ität eines Sys­tems, Homöostase, hat nichts mit ‘es passiert nichts’ zu tun. Auch Sta­bil­ität, Stag­na­tion ist nur durch Arbeit, durch Investi­tio­nen erre­icht bzw. erhal­ten. Ver­such: in einem stag­nieren­den Sys­tem die Arbeit­saufwände — Investi­tio­nen — zu erken­nen, separi­eren, zu erk­lären, die zur Aufrechter­hal­tung der schein­baren oder tat­säch­lichen Stag­na­tion notwendig sind und set­ze sie in Beziehung zu den eben­falls notwendi­gen, erkennbaren, separier­baren Investi­tio­nen, die auf Sys­temverän­derung drän­gen und abzie­len.)) Insofern hat Stag­na­tion auch attrak­tive Seit­en: Es ist nichts Neues zu befürcht­en; Investi­tio­nen sind bekan­nt, entsprechend bekan­nt sind die vom einzel­nen zu leis­ten­den Anstren­gun­gen. [..] Der (.. u.a. in der Ambivalenz der Rah­menbe­din­gun­gen angelegte ..) Verän­derungs­druck erfordert für Stag­na­tion soviel Gegen­be­we­gung, daß die erneute Bewe­gung der Gruppe sozusagen vor der Tür ste­ht; die innere, dauernd laufende Veränderung/Gegenveränderung “schlägt nach außen durch”, in der Gruppe wächst das Gefühl, “das etwas geschehen muß”. Wird der Gruppe nicht von außen geholfen, so ist diese näch­ste – sicht­bare – Bewe­gung die auf Zer­fall hin.
[..]
Einem “Zer­fall” als qua­si natür­lich­er Auflö­sung ste­ht die Auflö­sung auf Grund inner­er, von den Mit­gliedern nicht mehr verkraft­bar­er Span­nun­gen gegenüber. [..]
Ein Son­der­fall des Zer­falls ist die Spal­tung, deren klas­sis­che Vari­ante wiederum die Polar­isierung ist. [..]

4. Bezugs- und Ori­en­tierungs­grup­pen
Grup­pen­prozesse kön­nen ohne sys­tem­a­tis­che Berück­sich­ti­gung von Bezugs- und Ori­en­tierungs­grup­pen nicht voll ver­standen wer­den. Das Ergeb­nis eines Spal­tung­sprozess­es in der Form der Polar­isierung liefert zur Unter­schei­dung beson­ders gute Kri­te­rien. [..]
Bezugs­gruppe meint also den unver­mei­dlichen Bezug auf eine andere Gruppe, mit der man sich notwendi­ger­weise auseinan­der­set­zen muss, ob man will oder nicht. Bezugs­grup­pen umgeben alle Grup­pen, Grup­pen­ver­bände, “Großag­gre­gate”, wie Unternehmen, Län­der, Staat­en. Es sind die sozialen For­ma­tio­nen eigen­er Iden­tität, mit eigen­em Sou­veränität­sanspruch, mit deren Dasein man ein­fach zu rech­nen hat, da sie einen wesentlichen Teil der “Real­ität” darstellen. Eine Gruppe reagiert also auf die Tat­sache von Bezugs­grup­pen; insofern sie selb­st Bezugs­gruppe für andere Grup­pen ist, wirkt sie selb­stver­ständlich auch nach außen. Solange aber die sie umgeben­den Grup­pen nicht in beson­der­er Weise auf sie ein­wirken und sie selb­st nicht in das Sys­tem ander­er Grup­pen ein­greift, bleiben solche Beziehun­gen inner­halb der als “Rah­menbe­din­gun­gen” zu beze­ich­nen­den Gesam­tum­stände, in die die Gruppe einge­bet­tet ist. [..]

Ori­en­tierungs­grup­pen im eigentlichen Sinn sind dage­gen solche Grup­pen, von denen eine Gruppe ihre Ori­en­tierung grund­sät­zlich bezieht! Die – notwendi­ge – Ori­en­tierung ein­er Gruppe auf ein Ziel oder mehrere Ziele und die darin enthal­te­nen emo­tionalen, sach­lichen, infor­ma­torischen Dimen­sio­nen leit­et sich zuerst von den in die Gruppe mit­ge­bracht­en Vorstel­lun­gen, Fähigkeit­en und Fer­tigkeit­en ab. Mehr oder min­der unbe­wußt, sozusagen im Hin­ter­grund, häu­fig direk­ter und bewußter, ent­nimmt aber eine Gruppe Teile ihrer Syn­tax ein­er anderen Gruppe (oder der Vorstel­lung von ihr), das heißt, sie macht sie zur Ori­en­tierungs­gruppe. [..]

Grup­pen müssen daher in der Regel in zwei Abhängigkeit­en gese­hen wer­den, die für ihr Selb­stver­ständins (Bin­nenselb­stver­ständ­nis) und ihre Außen­darstel­lung wichtig sind: In der Abhängigkeit von der (oder den) Bezugsgruppe(n) und von der (oder den) Orientierungsgruppe(n). [..]

Die Notwendigkeit von Zusam­me­nar­beit mit anderen, “gle­ich­gesin­nten” Grup­pen bedeutet ander­er­seits eine Unter­w­er­fung unter die – nun gemein­sam verbindliche – Syn­tax “Sol­i­dar­ität” und damit einen Ver­lust von Selb­st­ständigkeit! Ver­lust von Selb­st­ständigkeit bedeutet aber auch Ver­lust von Kon­flik­t­fähigkeit im Hin­blick auf die je ganz eige­nen Inter­essen der Gruppe, die nun unter­ge­ord­net wer­den müssen. [..]

Diese Ambivalenz, daß die sol­i­darischen Grup­pen die Sol­i­dar­ität auch als Selb­st­ständigkeitsein­buße erleben müssen, ver­weist also darauf, daß Grup­pen­sol­i­dar­ität feine Haar­risse aufweisen muß, ger­ade solange der innere Zusam­men­halt der gegen­seit­i­gen Ori­en­tierungs­grup­pen, die hier gemein­sam han­deln, nicht in Frage gestellt ist. Ander­er­seits wird die – feindliche – Bezugs­gruppe eben unter diesem Aspekt des notwendi­gen Zusam­men­haltes mehrerer Grup­pen kon­sti­tu­tiv in dem Sinne, daß an ihrem Erhal­ten (als Katalysator für Selb­st­ständigkeit) Inter­esse bestehn muß. Para­dox­er­weise kön­nen also Bezugs- und Ori­en­tierungs­grup­pen auch und ger­ade im dro­hen­den Kon­flik­t­fall den gle­ichen Stel­len­wert für eine Gruppe haben, ja der Feind kann mehr geschätzt wer­den als der Bun­desgenosse!

Claessens, Dieter (1995 [1977]):
Gruppe und Grup­pen­ver­bände. Sys­tem­a­tis­che Ein­führung in die Fol­gen von Verge­sellschaf­tung

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