Das Ende einer Zivilisation … oft beschworen und oft nichts als Weltuntergangsstimmung bzw. die schmerzlich wertende In-Eins-Setzung von Schwellenzeiten strukurellen Wandels mit dem Abgesang an eine “gute alte”, eine bessere Gesellschaftsform.
(Siehe nebenbei das Ende des SoZi 14|09 für eine Kritik dieses Fatalismus.)
Nichts desto trotz muss mensch nicht unbedingt die Augen davor verschließen, dass in der Menschheitsgeschichte immer wieder Zivilisationen ihr Ende gefunden haben …
… in this case …:
Euklid war der erste große Mathematiker in einer langen und unglücklicherweise irgendwann zu Ende gegangenen Reihe von Gelehrten, die in Alexandria arbeiteten. [..]
Ein Sohn des Ptolemeios, der — wenig fantasievoll — den gleichen Namen trug, bestieg als Ptolemeios II. den Thron und ließ eine gewaltige Bibliothek mit einem Gebäude bauen, das er zu Ehren der Musen mouseíon nannte. Das mouseíon war weder ein Musentempel noch ein Museum, sondern ein Forschungsinstitut: die erste staatlich geleitete Einrichtung dieser Art.
Die Nachfolger Ptolemeios I. sammelten Bücher und entwickelten ziemlich interessante Methoden, um in ihren Besitz zu gelangen. So »bestellte« Ptolemeios II. die erste griechische Übersetzung des Alten Testaments, indem er siebzig jüdische Gelehrte auf der Insel Pharos als Geiseln ins Gefängnis warf, um sie gegen das Werk auszutauschen. Ptolemeios III. schrieb alle Herrscher der Welt an, um sich von ihnen Bücher zu »leihen«, die er dann behielt. ((Die Athener liehen Ptolemeios III. kostbare Manuskripte von Euripides, Aischylos und Sophokles. Ptolemeios behielt die Schriften, war aber immerhin so großzügig, Kopien anzufertigen und nach Athen zu schicken. Die Griechen müssen darüber nicht sonderliche überrascht gewesen sein: Sie hatten einen erheblichen Betrag als zusätzliche Leistung erbeten und auch erhalten. Vgl. Durant, Will: The Life of Greece, New York 1966, S. 601)) Dieses Beschaffungssystem funktionierte außerordentlich gut: Die Bibliothek von Alexandria umfasste — je nach Quelle — zwischen 200.000 und 700.000 Papyrusrollen, die fast das gesamte Wissen der damiligen Zeit repräsentieren.
Mit der Bibliothek und dem mouseíon wurde Alexandria das intellektuelle Zentrum der Welt [..]. Bei einem Ranking aller akademischen Einrichtungen in der Geschichte der Menschheit würde Alexandria wohl Newtons Cambridge, das Göttingen von Gauß und das Institute for Advvanced Study von Albert Einstein in Princeton au fdie Plätze verweisen. Vermutlich forschten alle griechischen Mathematiker und Naturwissenschaftler nach Euklid irgendwann in dieser unglaublichen Bibliothek.
Um 212. v. Chr. gelang es Eratosthenes von Kyrene — dem Chefbibliothekar Alexandrias, der sich wohl nie mehr als ein paar hundert Kilometer von der Stadt weggewagt hatte — den Erdumfang zu bestimmen. ((Kline, Morris: Mathematical Thought from Ancient to Modern Times, New York 1972, S. 160f.)) Seine Rechnungen waren für seine Zeigenossen eine Sensation, zeigten sie doch, welch geringen Teil des Planeten man damals erst kannte. [..]Der Bibliothekar war nicht der einzige Gelehrte in Alexandria, der wesentliche Beiträge zum Verständnis des Kosmos lieferte. Aristarchos von Samos komninierte auf geniale Weise die Trigonometrie mit einem einfachen Modell der Himmelskörper und konnte so mitbeachtlicher Genauigkeit die Größe des Mondes und seinen Abstand von der Erde bestimmen. Als erster Vetreter eines heliozentrischen Systems eröffnete er den Griechen eine neue Perspektive auf die Stellung des Menschen im Universum.
Ein weiterer Star unter Alexandrias Wissenschaftlern war Archimedes. Er wurde in Syrakus auf Sizilien geboren und reiste nach Alexandria, um dort an der königlichen Schule Mathematik zu studieren. [..]Mit dem Werk des Hipparchos von Nikaia im 2. Jahrhundert v. Chr. und dem des Klaudios Ptolemeios im 2. Jahrhundert n. Chr. erreichte nach der Mathematik auch die Astronomie in Alexandria einen Höhepunkt. ((ebd., S. 154–160)) [..]
In seiner Geographeía beschrieb Ptolemeios die damals bekannte Welt. [..]…
Ein weiteres Buch, das über die Rückschritte (der christlichen) Epoche Zeugnis ablegt, schrieb um 550 ein weit gereister Kaumann aus Alexandria names Kosmas Indikopleustes. Dort heißt es: »Die Erde ist flach. Der bewohnte Teil hat die Form eines Rechtecks, dessen Länge doppelt so groß ist wie seine Breite. … Im Norden liegt ein konisch geformtes Gebirge, hinter dem Sonne und Mond zurückkehren.« Das zwölfbändige Werk mit dem Titel Topographia Christiana beruhte weder auf Beobachtungen noch auf der Vernunft, sondern einzig auf der Heiligen Schrift: ein Buch, das man gut zwischen zwei Schlucken römischen Weins lesen konnte und das bis ins 12. Jahrhundert auf der Bestseller-Liste blieb, als die Römer schon längst Geschichte waren. ((Kline, Morris: Mathematics in Western Culture, London 1953, S. 89))
Die lange Reihe der großen Gelehrten, die in der Bibliothek von Alexandria arbeiteten, endete mit Hypatia, der ersten Gelehrtin, deren Geschichte uns überliefert ist. ((Zur Geschichte der Hypatia vgl. Dzielska, Maria: Hypatia of Alexandria, Cambridge 1955 und Lefkowitz, Mary R.: Die Töchter des Zeus, München 1999, S. 130–133)) Sie wurde um 370 als Tochter des berühmten Mathematikers und Philosophen Theon in Alexandria geboren. Theon unterrichtete seine Tochter in Mathematik und machte sie zuseiner engsten Mitarbeiterin. Damaskios, einer ihrer früheren Studenten, der das Leben des Philosophen Isidoros verfallte und als scharfer Kritiker galt, schrieb, sie sei von Natur aus scharfsinniger und talentierter als ihr Vater gewesen. Ihr Schicksal und dessen allgemeine Bedeutung wurden über die Harhunderte oft diskutiert und sowohl von Voltaire als auch in Gibbons Untergang des römischen Weltreichs erwähnt.
Am Ende des 4. Jahrhunderts zählte Alexandria zu den Hochburgen des Christentums. Das führte zu heftigen Kämpfen zwischen den Repräsentanten der Kirche und denen des Staates um Macht und Einfluss. Darüber hinaus kam es zu zahlreichen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Nichtchristen — etwa den griechischen Neuplatonikern oder den Juden. 391 stürmte der christliche Mob den noch bestehenden Teil der Bibliothek von Alexandria und brannte ihn fast völlig nieder. [..]
Hypatia berif sich auf das griechische Erbe bis zurück zu Platon und Pythagoras, nicht jedoch auf die christliche Kirche. [..] Studenten aus Rom, Athen und anderen großen Städten des Imperiums kamen nur ihretwegen nach Alexandria. [..] Hypatia brachte den Mut auf, ihre Vorlesungen fortzusetzen, obwohl Kyrill (Erzbischof von Alexandria) und seine Anhänger Gerüchte ausstreuten, sie sei eine Hexe, betreibe schwarze Magie und würde satanische Zaubersprüche über die Menschen der Stadt verhängen.
Vom Fortgang der Geschichte gibt es verschiedene, aber ähnliche Versionen. An einem Morgen inder Fastenzeit des Jahres 415 bestieg Hypatia ihre Kutsche, um nach Hause zu fahren. Einige Hundert der Marionetten Kyrills, christliche Mönche aus einem Wüstenkloster, stürzten sich auf sie, schlugen sie und schleppten sie zur Kirche. Dort zogen sie Hypatia nackt aus und schabten ihr mit Austernschalen das Fleisch vom Leib. Danach rissen sie ihr die Glieder einzeln aus und verbrannten die Überreste. Nach einem anderen Bericht verstreuten sie die Teile ihres Körpers überall in der ganzen Stadt. Alle Schriften Hypathias wurden vernichtet, nicht viel später auch die letzten Reste der Bibliothek. [..] Neue kaiserliche Beamte verliehen Kyrill die Macht und den Einfluss, nach dem er gestrebt hatte. Später wurde er sogar heilig gesprochen.
aus: Mlodinow, Leonard (2001):
Das Fenster zum Universum. Eine kleine Geschichte der Geometrie, S. 53f.
Ich gestehe, nein, ich bekenne, diese Passage schon lange und schon oft hier abgetippt haben zu wollen.
Jedesmal wenn im Zuge einer Debatte über Christentum, Kultur, Geschichte etc. das dämliche Argument kommt — und es kommt wie das Amen im Gebet -, dass das Christentum doch gut wäre, viel Gutes getan hätte und immer noch tun würde und die Verbrechen im Namen des Christentums traurige Verfehlungen gewesen wären, die lange zurück lägen und der Papst hätte sich schließlich ganz klar entschuldigt und sowieso hätten die Verbrechen im Namen des Christentums nicht im eigentlichen Sinne etwas mit dem Christentum zu tun hätten etc. … und “ich kenne viele Christen, die gute Menschen sind und man kann die nicht pauschal verurteilen” …
… ich ziehe mich schon lange aus solchen Diskussionen sofort zurück. Sinnlos.
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