Vierter Teil der kleinen Serie über die
gesellschaftliche Funktion der Schulbildung für
die soziale Institution “Bildung” allgemein;
und über die österreichische Schulbildung im Speziellen.
Wozu ist die Schule da? Das ist die perfekte Eröffnung für ein beliebtes Frage-Antwort-Spiel publizierender PädagogInnen und pädagogisierender PublizistInnen. Man nehme die Frage Wozu ist die Schule da? als Titel und Einleitung zur eigenen Erörterung und belehre sein Publikum sodann nach eigenem Gutdünken.
Wahlweise kann auch die Frage Was ist den die Aufgabe der Schule? zur eigenen Steilvorlage dienen, die dann eloquent übernommen werden sollte, um seinerseits (oder ihrerseits) zum Besten zu geben, welche Aufgabe der Schule denn nun wirklich zukommt. Die einleitende Frage nach Sinn und Aufgabe der Schule ist bei allen Vorträgen, Zeitungskommentaren oder ganzen Büchern dabei ausnahmslos immer eine rhetorische. Und sie wird nach eigenem Gutdünken beantwortet. Mal oft esoterisch, mal streng, mal hilflos dümmlich.
Die Aufgabe der Schule
Eine Definition der Aufgabe der Schule haben wir noch im letzte Teil zu den Werten des Wahren, Schönen und Guten berührt. Kommen wir zurück zum Wortlaut des Gesetzes. Diesmal sei der ganze Abschnitt vollständig zitiert.
Der Paragraf 2 des SchuOG, mit dem der Gesetzgeber die Aufgabe der österreichischen Schule festlegt. Ich mache mir selbst die Freude von Hervorhebungen:
(1) Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen.
Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewußten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.
Wir sehen, es handelt sich bei diesem Gesetzestext um ein Leitbild, um das, was heute überall nur mehr ‘Mission Statement’ heißt (klar, engl. für ‘Leitbild’), die ideologische Visitenkarte.
Der Gesetzestext ist punkto der Formulierung vl. ziemlich veraltet. Inhaltlich ist er gleichfalls etwas anachronistisch. Das liegt am Alter des SchuOG, aber das habe ich im letzten Beitrag bereits gewürdigt.
Umgekehrt sind vergleichbare Gesetzestexte mit der Funktion Mission Statement von der Art her nicht so anders, selbst wenn sie deutlich jüngeren Beschlussdatums sind. Hier etwa der entsprechende Paragraph des Schulgesetzes für Berlin (SchulG): ((Schulrecht ist in Deutschland Ländersache, die Länder haben Kultushoheit. Aus diesem Grund ist die Position des Bundesministeriums für Bildung gegenüber den Kultusministerien der Länder eine recht schwache. Übrigens Schulgesetze auf Landesebene gibt es in Österreich trotzdem auch immer noch.))
§ 1 [Aufgabe der Schule]
Aufgabe der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Kinder und Jugendlichen zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln. Ziel muß die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten. Diese Persönlichkeiten müssen sich der Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit bewußt sein, und ihre Haltung muß bestimmt werden von der Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, von der Achtung vor jeder ehrlichen Überzeugung und von der Anerkennung der Notwendigkeit einer fortschrittlichen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie einer friedlichen Verständigung der Völker. Dabei sollen die Antike, das Christentum und die für die Entwicklung zum Humanismus, zur Freiheit und zur Demokratie wesentlichen gesellschaftlichen Bewegungen ihren Platz finden.
Eins hab ich noch, eins hab ich noch. Nach dem Rhythmus alt (österreichisches: 1962), neuer (Berlin: 1980), noch neuer folgt ein weiteres Beispiel, das schon nicht mehr nur jüngeren Datums ist, sondern mit dem Entstehungsdatum 2005 quasi wirklich ‘jetzt! brandneu!’. Das Schulgesetz von Nordrhein-Festfalen: ((Der Paragraph 2 zu den Aufträgen der Schule umfasst im Ganzen 12!! Artikel. Bei dem Abdruck hier an dieser Stelle sind also nur die ersten Sätze zitiert.))
§ 2 Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule
(1) Die Schule unterrichtet und erzieht junge Menschen auf der Grundlage des Grundgesetzes und der Landesverfassung. Sie verwirklicht die in Artikel 7 der Landesverfassung bestimmten allgemeinen Bildungs- und Erziehungsziele.
(2) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. Die Jugend soll erzogen werden im Geist der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung.
(3) Die Schule achtet das Erziehungsrecht der Eltern. Schule und Eltern wirken bei der Verwirklichung der Bildungs- und Erziehungsziele partnerschaftlich zusammen.
(4) Die Schule vermittelt die zur Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Werthaltungen und berücksichtigt dabei die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler. …
…
Drei Beispiele für die gesetzliche Festschreibung der Aufgabe der Schule. Nun wissen wir alle, was in einem Mission Statement steht muss nicht allzu viel mit der Realität zu tun haben. Wir könnten die obigen gesetzlich festgeschriebenen Normen (Soll-Sätze) anderseits als Absichtserklärung des Gesetzgebers und der gesetzgebenden PolitikerInnen lesen. Was meine ich damit?
Solche Mission Statements in Gesetzen haben in einer gewissen Hinsicht viel mit der Realität zu tun, mit einer politischen Realität. Sie sind lesbar als Ausdruck des politischen Willens und des Gesellschaftsverständnisses der Kräfte, die zum Zeitpunkt der Ausarbeitung und Verabschiedung von Gesetzen “an der Macht” waren. Sie demonstrieren vor allem im Vergleich etwas vom Zeitgeist, der herrschte, als ein Gesetz in Kraft trat. ((Fügen wir die Begriffe ‘Zeitgeist’ und ‘herrschen’ zusammen, so haben wir den herrschenden Zeitgeist. In Anlehnung an Gramsci nennt man das kulturelle Hegemonie.))
Ich möchte in diesem Beitrag gleich eine vergleichende Analyse der drei Paragraphen aus den drei Gesetzen von 1962, 1980 und 2006 anbieten, vorher allerdings noch grundsätzliches …
Vom Sollen und Wollen
Gesetze sind Sammlungen von Normen, von sogenannte normativen Sätzen, auch als Soll-Sätze bezeichnet. Also Sätze der Art wie
Du sollst den Tag des Herrn heiligen.
oder
Man sollte 2x am Tag (eine halbe Stunde nach dem Essen) gründlich Zähne putzen mit Zahnbürste, Paste und Wasser, besonders abends vor dem Schlafen gehen. Darüber hinaus soll man 2 x im Jahr zur zahnärztlichen Untersuchung.
Soll-Sätze formulieren einen Wunsch bzw. ein wünschenswertes Verhalten, eine Vorschrift, eine Forderung, eine Zielvorstellung, einen Auftrag, … einen Leitsatz, der für eine Gruppe von Personen oder für Alle als Norm herhalten soll, was sein soll.
An Normen sollen und können Wirklichkeiten bemessen werden. Das, was tatsächlich ist, das wird in deskriptiven Sätzen, in beschreibenden Sätzen ausgedrückt. Während normative Sätze immer einen Wunsch und Anspruch an die Wirklichkeit formulieren, während der Mensch in normativen Sätzen also festlegt, was sein soll, beschreiben die deskriptiven Sätze das, was wirklich wirklich ist. ((Und im Wort wirklich sehen wir Nähe nicht nur zum Begriff der Wirklichkeit sondern auch zur Wirkung. Angewandt auch unsere Gesetzestexte ist vl. zu fragen, erstens, welche Wirkung haben die gesetzlich festgelegten Normen und zweitens, welche Wirkung hat das, was im Gesetz behandelt ist tatsächlich?))
Soll-Satz: Am Sonntag sollen Geschäfte zu haben. Weiterhin.
‘Ist’-Satz: In definierten touristischen Zentren des Landes dürfen Geschäfte auch an Sonntagen offen halten.
Anspruch und Wirklichkeit
Der Unterschied zwischen Soll-Sätzen einerseits und einer empirisch erfassbaren (vulgo: sinnlich erfahrbaren) und beschreibbaren Wirklichkeit andererseits ist nicht schwierig zu verstehen. Und das ein Soll-Satz noch lange keine tatsächliche Verwirklichung nachzieht, dass ist uns allen klar. Dennoch kommen uns allen die unterschiedlich zu bewertenden Ebenen von Anspruch und Wirklichkeit ständig ins Gehege, spätestens, wenn wir politische Debatten verfolgen oder uns an solchen beteiligen.
Nehmen wir kurz Anspruch und Wirklichkeit bezüglich der Aufgabe der Schule ins Visier. Dabei soll es sich nur um eine Vorschau handeln, denn mit Anspruch und Wirklichkeit wird sich diese Serie noch öfter und genauer auseinandersetzen.
Kommt die Schule ihren gesetzlich formulierten Aufgaben nach? Sehen wir uns ein paar Soll-Sätze an. Jede® mag selbst urteilen:
Und? Kommen wir alle zu gleichen Ergebnissen? Oder nur ähnlichen? Die Frage ist wohl auch, wie weit ein solcher Realitycheck sinnvoll ist.
Welche Art der Erkenntnis kann die Beantwortung der Frage bringen, ob die normativ festgestellte Aufgabe der Schule ‘in Wirklichkeit’ erfüllt wird, die Anlagen der Jugend bestmöglich zu entwickeln. Keine. Außer es handelt sich um eine ganze lange und differenzierte, ihre Aussagen gut fundierende Abhandlung. Und selbst dann hätten wir keine Antwort, die einen klaren ‘Ja-oderNein’-Schluss zu ließe.
Getrennte Analysen
Deskriptive Sätze sind gefragt. Empirische Forschung. Auf Fakten basierende Analysen. Bestandsaufnahmen, was die Wirkung von Schule ist. Die Beschreibung der Wirklichkeit hat – und das ist jetzt wichtig – im ersten Schritt losgelöst und unabhängig von den normativen Ansprüchen zu erfolgen. Geschieht dies nicht, so spielen immer Erwartungs- und Werthaltungen (die Ansprüche) massiv verzerrend in die Beschreibung der Wirklichkeit hinein.
Ein Beispiel gefällig?
In einem Interview mit dem Wochenmagazin Profil wurden Sie vor einer Woche mit der Tatsache konfrontiert, dass Bildung in Österreich vor allem eine Frage der Herkunft sei und gefragt, wie man dies ausgleichen könnte. Darauf antworteten Sie “Ich war als Bauernsohn im Gymnasium. Ich glaube nicht, dass wir soziale Barrieren im Schulsystem haben”. Sie sind also allen Ernstes der Meinung, mit Ihrem Einzelschicksal als Schüler aktuelle statistische Fakten einfach wegargumentieren zu können?
… ‘derStandard.at’-User im Chat mit Josef Pröll
Darauf Minister Pröll, vom Online-Standard als Leiter der ÖVP-Perspektivengruppe in den Chat geladen und als solcher die Perspektive der ÖVP(?) wiedergebend. *hüstel*:
Mein “Schicksal” ist ein Beispiel für viele. Es gibt keine soziale Barriere in unserem Schulsystem. Wir müssen es weiterentwickeln um jeden Kind nach seinen Neigungen und Eignungen das Beste zu ermöglichen. Nicht das Gleiche für alle sondern das Beste für jeden muss Leitsatz eine differenzierten und durchlässigen Schulmodells sein. ((Das österreichische Schulsystem weist nachweislich und BEWIESENERMAßEN keine soziale Barriere auf und wirkt an keiner Stelle und in keinem Fall so, dass von sozialen Barrieren gesprochen werden kann, weil … sonst wäre ja nichts aus dem Pröll Joschi geworden. Heißt, aus dem Pröll Joschi hätt’ nichts werden können, wenn unser österreichisches Schulsystem an irgendeiner Stelle für irgendjemanden in irgendeinem Fall sozial selektiv wirken würde. Welch zwingende Logik. Ist das vertrottelt?))
Was lernen wir daraus. (Ok, viel! Und nichts, was nicht schon bekannt wäre. Zugegeben, das Beispiel ist vl. ein bißchen fehl am Platz, aber ich musste das unterbringen. Sorry. Ich musste! Ahh.) Ich belasse es dabei, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht allein zwei Paar Schuh’ sind, sondern sich schnell mal in die Quere kommen können.
Im nächsten Teil dieser Serie über Bildung wird es daher in Abgrenzung von den normativ festgelegten Aufgaben der Schule dann um die Beschreibung der “tatsächlichen” gesellschaftlichen Funktion der Schule gehen.
Und damit kehre ich zu den Gesetzestexten und zur normativen Festlegung der Aufgabe der Schule zurück:
Vergleich der Gesetzestexte
Ich habe oben die These formuliert, dass die Mission Statements ausdrückenden Paragraphen der Gesetzestexte in der Regel einen vorherrschenden Zeitgeist illustrieren. Daraus abgeleitet müsste ich sagen:
Das österreichische SchuOG verdeutlicht das hegemoniale Gesellschaftsverständnis der 1950er und 60er Jahre, das berliner SchulG von 1980 drückt noch jenes der 1970er Jahre aus und jenes für Nordrhein-Westfalen spricht Bände für die heute vorherrschende kulturelle Hegemonie. Sehen wir uns die Konstanten und die Unterschiede an.
Religiöse Werte, das Christentum und die Erfurcht vor Gott
Alle drei Gesetzestexte verankern das Thema ‘Religion’ zentral unter die Aufgaben der Schule, allerdings jeweils unterschiedlich.
Unser SchuOG formuliert ganz in der Tradition des christlich-sozialen Bildungsbürgertums, wenn von sittlichen, religiösen und sozialen Werten gesprochen wird. Die Vorrangstellung des Dreigestirns der Werte des Wahren, Guten und Schönen verweist darüber hinaus auf eine konkrete abendländische philosophische Tradition, die christlich definiert ist. Die Formel von den Gliedern der Gesellschaft gehört ganz eindeutig in die katholischen Soziallehre.
Im berliner SchulG sind, behaupte ich, die Auswirkungen der Bildungsdebatten und ‑reformen zu bemerken. Im letzten Satz werden Antike und Christentum erwähnt als handle es sich um eine angehängte Klarstellung. Antike und Christentum bilden hier nicht mehr die Basis unseres mitteleuropäischen Bildungsverständnisses (wie das aus dem österreichischen Text sehr wohl herauszulesen ist). Im Gegenteil, ihre Relevanz wird reduziert und eingegrenzt auf ihre Beiträge für die Entwicklung zum Humanismus, zur Freiheit und zur Demokratie.
Im SchulG für NRW lässt sich sowohl der konservative Backlash als auch die europäische Wertedebatte ablesen, die seit Jahren in Abwehr eines türkischen EU-Beitritts geführt wird. An allererster Stelle steht die Erfurcht vor Gott! Blasphemie wird unter Strafe gestellt? Ehrfurcht vor Gott. Keine christlichen religösen Werte, die durch die Schule vermittelt werden sollen. Kein Bekenntnis zur christlich-abendländischen Geschichte, der im schulischen Unterricht eine hervorragende Rolle zukommen soll. Nein, die Schule soll zu Erfurcht vor Gott erziehen. Und in weiterer Folge auch – kommt das nur mir wie ein Zugeständnis vor? – zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen.
Die Glieder der Gesellschaft und die gesellschaftlichen Verhältnisse
Die Jugend soll in der Schule zu Gliedern der Gesellschaft erzogen werden, darin sind sich die drei Texte einig. D.h., durch die Schule soll aus der Masse der ihr überantworteten Kinder und Jugendlichen die differenzierte Gesellschaft der für die Allgemeinheit wertvoller Individuen herangebildet werden.
Die Schule ist nicht für das Individuum da sondern für die Allgemeinheit. Das wird an solchen Stellen glasklar und das war in der historischen Entwicklung immer so, ist heute so, wird so bleiben.
Was sich nun in den Mission Statements abweicht, das sind die Vorstellungen von dem, was ein wertvolles Individuum mitbringen muss und die Definition dessen, was die Allgemeinheit ist.
Das SchuOG wünscht, es mögen arbeitstüchtige, pflichttreue und verantwortungsbewusste Glieder der Gesellschaft durch die Schule geschaffen werden. Hier zeigt sich im Text aus den frühen 1960er Jahren noch das Gesellschaftsbild der Unterordnung des Individuums unter die Gemeinschaft vor. Diese Gemeinschaft, das ist zuerst eine katholische Gemeinschaft, worauf einige Formeln verweisen (siehe oben) und außerdem der Staat, die demokratische und bundesstaatliche Republik Österreich, mit ihrer Wirtschaft und Kultur. ((In der Summe der Formulierungen und Sätze würde ich sagen, dass hier ein im Kern auf die hegelsche Rechtslehre zurückgreifendes Idealbild vom Staat, der Kirche und dem pflichtbewussten Bürger gezeichnet wird.))
Das Schulgesetz für Berlin stellt die Kinder und Jugendlichen und deren Entwicklung zu Persönlichkeiten in den Vordergrund. Staat und Gesellschaft kommen nur als staatliches und gesellschaftliches ‘Leben’ vor, von der Nation, dem Volk, der Heimat oder der Kultur wird nicht gesprochen.
Für das staatliche und gesellschaftliche Leben sollen Persönlichkeiten erzogen werden, die dieses Leben und die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten können. Das hier zum Ausdruck kommende Gesellschaftsbild verlangt also kein Sich Einfügen (Unterordnen) in eine Gemeinschaft sondern ein aktives Gestalten eines offenen Zusammenlebens (‘gesellschaftliche Verhältnisse’), es verlangt Partizipation. ‘Leben’, der Begriff weist nicht die Grenzen nationaler, heimatlicher oder kultureller Rückbindungen auf, ‘Leben’ verweist auf Zusammenleben.
Hier wird nun logisch nachvollziehbar die Formel der Allgemeinheit verwendet, die eben keine Begrenzung kennt und keine Kriterien, wer dazu gehört und wer nicht. Die Schule soll Kinder und Jugendliche auf ein verantwortliches Leben gegenüber der Allgemeinheit vorbereiten.
Das Schulgesetz für NRW ein Vierteljahrhundert später spricht von eigenständigen , individualisierten Individuen. Die Schule fördert – es gibt im Text kaum ein ’soll’, eine Vielzahl von Anforderungen, Aufträgen und Grenzen, aber auf nichts soll abgezielt werden, alles wird gemacht – die Entfaltung der Person, die Selbstständigkeit ihrer Entscheidungen. Die SchülerInnen habe das selbstständige und eigenverantwortliche Handeln zu lernen und das Vertreten der eigene Meinung. ((Teilweise aus dem oben nicht zitierten Teil des SchulG von NRW, siehe obigen Hyperlink.)) Und all das schafft die Schule unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler.
Die geforderte Selbstständigkeit und Eigenverantwortung ist nicht unbegrenzt, sie hat sich an einen definierten Rahmen zu halten, der vom SchulG Nordrhein-Westfalens in für Gesetzestexte unüblicher Redundanz wiederholt wird. Dieser Rahmen ist gesetzt durch die Grundlage des Grundgesetzes und die Landesverfassung.
Und:
Schülerinnen und Schüler werden befähigt, verantwortlich am sozialen,
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen und politischen
Leben teilzunehmen und ihr eigenes Leben zu gestalten.
Zusätzlich anzuerziehen ist noch die Liebe zu Volk und Heimat. ((Man gebe diese beiden Begriffe Volk und Heimat versuchsweise einmal in Google ein. Na? Schon probiert? Der schnellste Weg, um auf rechtsextreme Seiten zu kommen. Nur rechtsextreme Seiten unter den ersten Treffern, oder?)) Darüber hinaus wert das heraus zu streichen ist, dass dieser Gesetzestext an mehreren Stellen nicht nur von der Verantwortung des Individuums sondern auch von jener der Eltern spricht.
Frieden, Freiheit, Menschenwürde u.s.w.
Bei den bisherigen Betrachtungen und Vergleichen ausgelassen und ausgespart geblieben sind die besonderen Sensibilisierungen. Wofür, fordert der Gesetzgeber, soll die Schule die ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen besonders sensibilisieren?
Ein paar Antworten sind immer gleich: Frieden, Freiheit, Demokratie, Menschenwürde und weltanschauliche Toleranz.
Darüber hinaus gibt es Unterschiede, die in diesem Fall weniger auf verschiedene Gesellschaftsauffassungen verweisen als auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.
Ein kleines unscheinbares aber bemerkenswertes Wort findet sich im österreichischen Mission Statement aus den frühen 1960er Jahren. Die Jugend der Alpenrepublik sollen explizit zu ‘gesunden’ Bürgern herangezogen werden.Tja, der Grund vl.: die Entdeckung der Hygiene und der Volksgesundheit lag damals noch nicht so lange zurück.!?
Im Gesetzestext Berlins, jenes West-Berlins des kalten Kriegs, soll als vorrangige besondere Sensibilität die Widerstandskraft gegen die Ideologie des Nationalsozialismus und alle anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren herangebildet werden.
Aus der Zeit heraus (für einen Gesetzestext wohl) neu ist die geforderte Fähigkeit, eine Gesellschaftsform mitgestalten zu können, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter verwirklicht sein sollte. Das SchulG Berlins schreibt dazu noch fest, dass durch die Schule herangebildete Haltung von der Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen bestimmt sein sollte.
Die Gleichberechtigung aller Menschen findet im Text des SchulG von Nordrhein-Westfalen keine explizite Erwähnung mehr, schon aber der Grundsatz der Gleichberechtigung der
Geschlechter. Darüber hinaus wird hier nun noch festgeschrieben, dass das Verantwortungsbewusstsein für die Natur und die Umwelt geschult werden soll, für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Die Bezeichnungen der Objekte schulischen Aufgaben
Das Gesetz von 1962 definiert ‘die Jugend’ als Objekt der Tätigkeit der Schule und wünscht als Ergebnis ‘Bürger’.
Das Gesetz von 1980 definiert ‘Kinder und Jugendliche’ als Objekt der schulischen Tätigkeit und fordert ‘Persönlichkeiten’ als Ergebnis dieser Tätigkeit im Sinne des Auftrags.
Das Gesetz von 2005 definiert das Objekt der schulischen Tätigkeit mit ‘der junge Mensch’, der in der Schule zu ‘Schülerin und Schüler’ wird, darüber hinaus aber kaum bezeichnet ist. Als einziger Gesetzestext differenziert jener von NRW die Objekte: nach individuellen Voraussetzungen, nach Behinderungen, nach ethnischen, kulturellen und sprachliche Identitäten.
Resümee
Der Auftrag an die österreichische Schule, wie er im SchuOG von 1962 festgelegt wird. Ich fasse zusammen:
Produktion gesunder, pflichtbewusster und arbeitsamer Bürger und Kirchengänger. Vorbereitung dieser zukünftigen Bürger auf die Einordnung in den durch die katholische Kirche gestützten Staat, sein Wirtschaftsleben und die sittsame österreichische bürgerliche Kultur.
Der Auftrag an die Schulen Berlins, wie festgelegt im SchulG 1980. Meine Zusammenfassung:
Heranbildung kritischer, jede Art von Gewalt ablehnender und entgegentretender Persönlichkeiten. Vorbereitung dieser Persönlichkeiten dahingehend, dass sie selbst aktiv an der fortschrittlichen Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse mitwirken können.
Der Auftrag an die Schulen Nordrhein-Westfalen, ausgedrückt im aktuellen SchulG von 2005. In meiner Zusammenfassung:
Erziehung von jungen Menschen zu eigenverantwortlichen Individuen, die in Erfurcht an Gott glauben, in Liebe an das Volk und die Heimat und in Selbstverständlichkeit an die Selbstständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen. So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, nur Individuen und ihre Familien. Amen.
2 Antworten auf „Die Aufgabe der Schule“
Heutige Aufgabe der (Pflicht)Schule 2009 in Österreich:
Objekt, das die tüchtige Bevölkerung (also Lehrpersonen exklusive) zum Hetzertum gegen eine gewisse Berufsgruppe animiert.
Völlig begründet: Besitzen Lehrer doch tatsächlich die Frechheit, sich gegen Zusatzarbeit zu sträuben, die sie kostenlos verrichten müssen.Und das gerade Lehrer, die ja so viel Freizeit haben. Und völlig überbezahlt sind. Kinder unterrichten ist doch eh so einfach, sind ja alle so lieb, ist ja alles so nett. Und da sie alle faul und unengagiert sind, bereiten sie eh nix vor. Haben also nur einen zu belächelnden Halbtagsjob. Dass sie anfangs nur 1000 Euro verdienen trotz Studium und Akademikerdasein — ahm, was? Uni? What´s that? Achso, nur Medizin und Jus studiert man — alles andere macht man. Ist klar. Und man weiß ja, dass Juristen und Mediziner allgemein dafür bekannt sind, gern gratis zu arbeiten. Nur leider ist da die Politik dagegen. 🙄
[…] Quelle:http://www.unet.univie.ac.at/~a9005396/php/weblog/?p=66 Körperliche Strafen wie auf diesem Bild sind nach der neunten Standesregel des LCH nicht erlaubt, da sie die Menschenwürde verletzen. Präsentieren […]