Dritter Teil der — geplanten — kleinen Serie über
die gesellschaftliche Funktion der Schulbildung für
die soziale Institution “Bildung” allgemein;
und über die österreichische Schulbildung im Speziellen.
Im zweiten Teil der Serie habe ich ein wenig aus Joseph Roth’s Radetzkymarsch zitiert. Mit ein paar weiteren Zitaten möchte ich noch aufwarten.
Wir erinnern uns, der Hauptmann Trotta hatte das k&k‑Lesebuch ((Einen Eintrag zur Bildungsperiode der Lesebücher sollte es in dieser Serie auch irgendwann einmal geben.)) für Schüler in die Hände bekommen, etwas darin geblättert und zu seiner Überraschung sich selbst darin wiedergefunden. Aber wie?
Der Zorn schüttelte ihn, wie der Sturm einen schwachen Strauch, heißt es bei Joseph Roth. Nachdem er das Lesestück seiner Frau gezeigt hatte, nahm er den Säbel vom Haken, schnallte den Gurt mit einem bösen und heftigen Ruck um den Leib und verließ mit wilden und langen Schritten das Haus. Er war auf dem Weg, sich mit seinem Schachpartner und Vertrauten im Kaffeehaus zu beraten.
«Ich muss mich mit Ihnen beraten!» – Pause. – «Man hat mit mir Mißbrauch getrieben», begann er wieder, sah geradewegs in die blitzenden Brillengläser des Notars und merkte nach einer Weile, daß ihm die Worte fehlten. [..] «Was für ein Mißbrauch?» fragte der Jurist. «Ich habe nie bei der Kavallerie gedient», glaubte Hauptmann Trotta am besten anfangen zu müssen, obwohl er selbst einsah, daß man ihn so nicht begreifen konnte. «Und da schreiben diese schamlosen Schreiber in den Kinderbüchern, daß ich auf einem Fuchs, einem schneeweißen Fuchs, schreiben sie, herangesprengt bin, um den Monarchen zu retten, schreiben sie.» – Der Notar verstand. Er selbst kannte das Lesestück aus den Büchern seiner Söhne.
Tja, die schamlosen Schreiber der Kinderbücher, sagt der Trotta. Sie würden Missbrauch treiben, meint er. Das kann, liebe Leserin und lieber Leser, sich jeder mal selbst fragen. Ist er naiv bis dort hinaus der Hauptmann Trotta? Übertreibt er maßlos in seiner Empörung? Ist es gerechtfertigt und passend, von Missbrauch zu sprechen?
Historische Fakten und Geschichtsunterricht
Missbräuchlich verwendet werden hier in diesem Beispiel und in vielen anderen Beispielen, die wir uns lebhaft vorstellen können, historische Fakten. Missbraucht wird Geschichte, so nennen wir das im Allgemeinen. Ein Kavaliersdelikt? Jedenfalls zeigt die Geschichte des Hauptmann von Trotta, dass jede Geschichtsklitterung offensichtlich immer den Missbrauch der handelnden und betroffenen Personen einschließt.
Wie reagiert aber nun der Schachfreund des Herrn von Trotta:
«Sie überschätzen das, Herr Hauptmann», sagte er. «Bedenken Sie, es ist für Kinder!» Trotta sah ihn erschrocken an. In diesem Augenblick schien es ihm, daß sich die ganze Welt gegen ihn verbündet hätte: die Schreiber der Lesebücher, der Notar, seine Frau, sein Sohn, der Hauslehrer. «Alle historischen Taten», sagte der Notar, «werden für den Schulgebrauch anders dargestellt. Es ist auch so richtig, meiner Meinung nach. Die Kinder brauchen Beispiele, die sich ihnen einprägen. Die richtige Wahrheit erfahren sie dann später!»
Die richtige Wahrheit erfahren wir dann später! Teilweise. Zum Teil beschäftigt uns das ein Leben lang – und es ist anstrengend und kostet Kraft –, langsam und Schritt für Schritt immer mehr von “der richtigen Wahrheit” zu erkennen. Zum anderen Teil erfahren wir nie von der richtigen Wahrheit und bleiben immer in den schulisch verbreiteten Bildungsmythen und der Geschichtsklitterung verhaftet.
Und zu noch einem anderen Teil legen wir uns gegen den Ansturm der richtigen Wahrheit quer, weil das eben anstrengend ist und Kraft kostet, die allgemein geteilte falsche Wahrheit zu dekonstruieren.
Der Hauptmann von Trotta wollte da nicht mitspielen. Darum kommt er uns ja auch so naiv und dumm vor. Sein Kampf erinnert an den Kampf gegen Windmühlen. Ein Ritter von der traurigen Gestalt.
Er ging heute nicht ins Kasino, er aß nicht einmal, er legte sich schlafen. Er schlief traumlos und schwer. Den nächsten Morgen beim Offiziersrapport brachte er knapp und klingend seine Beschwerde vor den Obersten. Sie wurde weitergeleitet. Und nun begann das Martyrium des Hauptmanns Joseph Trotta, Ritter von Sipolje, des Ritters der Wahrheit.
.. erzählt Joseph Roth.
Die Beglaubigung unserer schulischen Narrative
Die Beschwerde nimmt ihren Weg durch die k&k‑Bürokratie. Wochenlang liegt sie im Kriegsministerium. Schließlich wird sie an das Kultus- und Unterrichtsministerium weitergeleitet. Eines Tages kommt Antwort vom seiner Durchlaucht, dem Herrn Minister:
«Euer Hochwohlgeboren,
sehr geehrter Herr Hauptmann!
In Erwiderung auf Euer Hochwohlgeboren Beschwerde, betreffend Lesebuchstück Nummer fünfzehn der autorisierten Lesebücher für österreichische Volks- und Bürgerschulen nach dem Gesetz von 21. Juli 1864, verfaßt und herausgegeben von den Professoren Weidner und Srdeny, erlaubt sich der Herr Unterrichtsminister respektabelst, Euer Hochwohlgeboren Aufmerksamkeit auf den Umstand zu lenken, daß die Lesebuchstücke von historischer Bedeutung, insbesondere diejenigen, die Seine Majestät, den Kaiser Franz Joseph höchst persönlich, sowie auch andere Mitglieder des Allerhöchsten Herrscherhauses betreffen, laut Erlaß vom 21. März 1840, dem Fassungsvermögen der Schüler angepaßt und bestmöglichen pädagogischen Zwecken entsprechend gehalten sein sollen. Besagtes, in Euer hochwohlgeboren Beschwerde erwähntes Lesestück Nummer fünfzehn hat Seiner Exzellenz dem Herrn Kultusminister persönlich vorgelegen und ist dasselbe von ihm zum Schulgebrauch autorisiert worden. In den Intentionen der hohen sowie auch nicht minder der niederen Schulbehörden ist es gelegen, den Schülern der Monarchie die heroischen Taten der Armeeangehörigen, dem kindlichen Charakter, der Phantasie und den patriotischen Gefühlen der heranwachsenden Generation entsprechend, darzustellen, ohne die Wahrhaftigkeit der geschilderten Ereignisse zu verändern, aber auch, ohne sie in dem trockenen, jeder Aneiferung der Phantasie, wie der patriotischen Gefühle entbehrenden Tone wiederzugeben. Zufolge dieser und ähnlicher Erwägungen ersucht der Unterzeichnete Euer Hochwohlgeboren respektvollst, von Euer Hochwohlgeboren Beschwerde Abstand nehmen zu wollen.»
Ein Schelm, wer sich da an unsere zeitgenössische Gegenwart erinnert fühlt. Ein Schelm, wer vermeint, es hätt’ sich nicht viel geändert seit der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, von der hier erzählt wird. Aber zu unseren heute approbierten Schulbüchern werde ich noch in manchen späteren Beiträgen zu sprechen kommen.
Die Intentionen der Schule
Seine Exzellenz, der Roth’sche Kultus- und Bildungsminister spricht von den Intentionen der Schulbehörde und implizit von den Aufgaben der Schule. Die patriotischen Gefühle der heranwachsenden Generation sollen geweckt werden, ohne die Wahrhaftigkeit der Ereignisse zu verändern.
Das klingt bereits ein wenig nach der traditionellen Formel und Hohlformel von den Werten des Wahren (Wahrheit), Schönen (Ästhetik) und Guten (Ethik). Nach diesen Werten sollte der Mensch auf Geheiß vieler großer weißer Männer in der Antike, dem Mittelalter und besonders dem deutschen Idealismus streben, denn sie sind es, die die Welt zusammen halten.
Und die österreichische Schule heute, sieben Jahre in das 21. Jahrhundert hinein, deutlich über hundert Jahre nach dem (fiktiven) Schreiben Seiner Exzellenz, des Kultus- und Bildungsministers? Befragen wir das Schulorganisationsgesetz (SchuOG):
§ 2. Aufgabe der österreichischen Schule
(1) Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken.
Fein. Gut. Ganz die christlich-normativ ausgerichtete traditionelle Pädagogik. Klingt ein bißchen so, als wäre unser österreichisches Schulorganisationsgesetz schon ein wenig älteren Datums, oder? Antwort: 25. Juli 1962.
(Der Algerienkrieg wird beendet, Algerien erringt Autonomie vom Frankreich De Gaulles. In den USA wird der erste Funk- und Fernsehsatellit der Welt in die Erdumlaufbahn geschossen. Marilyn Monroe, Nils Bohr und Hermann Hesse sterben. Eichmann wird hingerichtet. Lisl Gehrer ist 20 Jahre alt und arbeitet als Volksschullehrerin in Hart im Zillertal.)
Wir könnten uns damit zu trösten versuchen, dass die Zielformulierungen im Gesetzestext ja nur Worte, Worte und nichts als Worte sind. Und dass die Realität anders aussähe.
Leider ist das halt nichts anderes als Selbstbetrug, eine Lebenslüge, die bei allergrößter Anstrengung nur so lange funktioniert, bis ein(e) ÖVP-Politiker(in) den Mund aufmacht.
Naive Ritter, traurige Gestalten und Windmühlen
Die Moral von der Geschichte? Unsere Schule ist traditionell. Unsere Schule ist alt. Unsere Schule und die Schulbehörden, die Bildungspolitiker und unsere Pädagogik, alle sind sie alt und altklug.
Wer an solchen Verhältnissen rührt, wer wie der Trotta schreit Das ist eine Lüge!, dem droht das Schicksal eines Don Quichote oder eines Trotta. Die Funktionäre des Systems werden schnell gütig und weise klingen, werden uns wohlwollend und gönnerhaft bitten, von unseren Beschwerden respektvollst Abstand zu nehmen. Es ist ja für die Kinder. Geh bitte, für dich nicht so auf, wir wissen doch alle, dass ein bißchen geflunkert wird.Und übrigens ist es gut so, denn die jungen Menschen, das erste und wichtigste, das die brauchen, das erste, was die lernen müssen, sie müssen ein Gefühl, ein hehres, ein hohes Gefühl bekommen für das Schöne, das Gute, das Wahre.
Eine Antwort auf „Werte des Wahren, Schönen und Guten“
[…] Aufgabe der Schule Eine Definition der Aufgabe der Schule haben wir noch im letzte Teil zu den Werten des Wahren, Schönen und Guten berührt. Kommen wir zurück zum Wortlaut des Gesetzes. Diesmal sei der ganze Abschnitt […]