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SoZi 15|09: die präbendale Gesellschaft

Das dieswöchige SoZi zur Form der «präben­dalen Gesellschaft» bzw.: präben­dalen Herrschaft­sor­gan­i­sa­tion. Die «Präben­den», ist gle­ich, die Pfründe.

Doch nicht die angekündigte direk­te Anknüp­fung an die «zer­streute Gesellschaft», die auf der Formebene «fascis­tis­che Gesellschaft». (Aber der Faden lässt sich jed­er Zeit wieder aufnehmen.)

Warum? Eine Analo­gie, ein Gedanke beschäftigt mich seit län­gerem und zunehmend. Wenn ich die besitzende Klasse der  Indus­triellen, der Banker, Finanzweltjon­gleure etc. betra­chte, finde ich — klar­erweise — jede Menge struk­tureller Entsprechun­gen zur herrschen­den Klasse im Ausklang des europäis­chen Feu­dal­is­mus.
Genauer: mit der «höfis­chen Gesellschaft», wie sie Elias in seinen sozio­genetis­chen und psy­cho­genetis­chen Stu­di­en analysiert und beschreibt.

Der struk­turelle Wan­del va. von der zen­tralen Form des Fam­i­lienun­ternehmens (neben den staatlichen Unternehmen und öffentlichen  Wirtschafts­bere­ichen) zur heute immer mehr bes­tim­menden Form der durch Share­hold­er geleit­eten Unternehmen scheint mir unsere gesamte Gesellschaft nach­haltig zu struk­turi­eren.

Und eben hier beschäftigt mich der Ein­druck, dass viele struk­turelle Bedin­gun­gen und — sozio­genetis­che wie psy­cho­genetis­che — Prozesse in diesem Zusam­men­hang heute … mit denen von Elias in Der Prozess der Zivil­i­sa­tion beschriebe­nen Bedin­gun­gen und Prozessen ver­gle­ich­bar sind (siehe z.B. Elias Beschrei­bung der «Konzen­tra­tion», der «Ambivalenz zen­trifu­galer und zen­tripedaler Abhängigkeitsver­hält­nisse» etc.).

Ich ver­mute also, dass (1) die Analyse der Entwick­lun­gen unseres Kap­i­tal­is­mus der Nachkriegszeit bis heute mit (2) dem method­is­chen Zugang von Elias und Blick auf  eine (3) his­torische Kom­para­tis­tik va. der Struk­turen, Dynamiken und aber auch «sozialen Felder» nicht nur span­nend son­dern äußerst gewinnbrin­gend sein sollte.

In diesem über­ge­ord­neten Kon­text kommt der Baustein «Präben­dal­is­mus» ins Spiel:

Wir wollen mit dem Hin­weis begin­nen, den Weber zu den Fol­gen der bei­den For­men der Desin­te­gra­tion eines Imperi­ums gibt: Feu­dal­isierung wie in Wes­teu­ropa und Präben­dal­isierung wie in Chi­na. ((Im Glos­sar zu Max Weber, The Reli­gion of Chi­na, New York 1951, schreibt Hans Gerth: »Präbende«: das Recht eines Amtsin­hab­ers, aus Staats oder Kirchen­land oder aus anderen öffentlichen Einkün­ften Gewinne zu erzie­len. Weber beze­ich­net solche Amtsin­hab­er als »Präben­dare«, also Amt­spfrün­der. Ein poli­tis­ches Sys­tem auf der Grund­lage ein­er Kör­per­schaft von Präben­daren nen­nt Weber »Präben­dal­is­mus«.)) Er führt an, daß ein ger­ade erst zen­tral­isiert­er Staat sehr viel wahrschein­lich­er aus einem feu­dalen als aus einem präben­dalen Sys­tem entste­ht. Webers Begrün­dung lautet:

Die occi­den­tale Seigneurie entwick­elte sich wie die ori­en­tal­isch-indis­che durch Zer­set­zung der pat­ri­mo­ni­al­staatlichen Zen­tral­ge­walt, dort des Karolinger­re­ichs, hier der Khal­ifen oder Maharad­scha- und Groß­moghul-Macht. Aber im Karolinger­re­ich vol­l­zog sich die Entwick­lung auf der Basis stark vor­wiegen­der Nat­u­ral­wirtschaft und unter Benutzung der let­ztlich an das Gefol­gschaftswe­sen anknüpfend­en Vasal­len­treue zur Verknüp­fung der zwis­chen König und Geme­in­freie tre­tenden Her­ren­schicht mit dem ersteren (Anmerk.: = Feu­dal­is­mus). Feu­dalver­hält­nisse fan­den sich, sahen wir, auch in Indi­en. Aber sie waren dort wed­er das für die Adels- noch für die Grund­herrschafts­bil­dung schließlich Auss­chlaggebende. Im Ori­ent über­haupt und so auch in Indi­en entwick­elte sich vielmehr die dort typ­is­che Seigneurie aus der Steuer­pacht und aus der Mil­itär- und Steuerpfründe eines wesentlich stärk­er bürokratis­chen Staatswe­sens. Deshalb blieb sie dem Wesen nach »Pfründe« und wurde nicht »Lehen«: nicht eine Feu­dal­isierung, son­dern eine Präben­dal­isierung des Pat­ri­mo­ni­al­staats vol­l­zog sich, die ihre occi­den­tal­en Analo­gien — wen auch solche von unter­en­twick­el­ter Art — nicht im mit­te­lal­ter­lichen Lehen, son­dern im Ämterkauf und der Präben­den etwa des päp­stlichen Sei­cen­to oder der französichen Noblesse de Robe find­et. [..]

Die Logik in Webers Argu­men­ta­tion läuft unge­fähr so: [..] Langfristig kann eine präben­dale land­be­herrschende Klasse dem Entste­hen ein­er wirk­lich zen­tral­isierten Monar­chie bess­er Wider­stand leis­ten als eine feu­dale landbe­sitzende Klasse: denn das feu­dale Wert­sys­tem kann vom König insofern benutzt wer­den, als er sich selb­st zur Spitze eines einzi­gen hier­ar­chis­chen Sys­tems feu­daler Beziehun­gen machen kann, um ein auf sich sel­ber gerichtetes Loy­al­itätssys­tem zu erricht­en. Dieses Sys­tem kann ein­fach die per­son­alen Ele­mente abw­er­fen und zur Loy­al­ität ein­er Nation gegenüber wer­den, die der König verkör­pert. Der Präben­dal­is­mus, der viel mehr ein ver­traglich­es Sys­tem als der Feu­dal­is­mus ist, kann durch solch mys­tis­che Bindun­gen nicht überlis­tet wer­den.
[..]

Es war daher eine all­ge­meine Folge des ori­en­tal­is­chen Pat­ri­mo­ni­al­is­mus und sein­er Geldpfrün­den: daß regelmäßig nur mil­itärische Eroberun­gen des Lan­des oder erfol­gre­iche Mil­itär- oder religiöse Rev­o­lu­tio­nen das feste Gehäuse der Pfrün­der­in­ter­essen sprengten, ganz neue Machtverteilun­gen und damit neue ökonomis­che Bedin­gun­gen schaf­fen kon­nten, jed­er Ver­such ein­er Neugestal­tung von innen aber an jenen Wider­stän­den scheit­erte. Die große his­torische Aus­nahme bildet, wie gesagt, der mod­erne europäis­che Okzi­dent. Zunächst deshalb, weil er der Befriedung in einem ein­heitlichen Reich ent­behrte. Wir erin­nern uns, daß die gle­ichen Staat­spfrün­der­schicht, welche im Wel­tre­ich die Ratio­nal­isierung der Ver­wal­tung hemmte, dere­inst in den Teil­staat­en ihr mächtig­ster Förder­er gewe­sen war. Aber der Anreiz war nun fort­ge­fall­en. Wie die Konkur­renz um den Markt die Ratio­nal­isierung der pri­vatwirtschaftlichen Betriebe erzwang, so erzwang bei uns und indem Chi­na der Teil­staaten­zeit die Konkur­renz um die poli­tis­che Macht die Ratio­nal­isierung der staatlichen Wirtschaft und Wirtschaft­spoli­tik. ((Weber, Max: Wirtschaft­sethik der Wel­tre­li­gio­nen. Kon­fuzian­is­mus und Tao­is­mus, Tübin­gen 1920))

[..]

Anmerkung, ver­such­sweise:
… erset­ze “Steuerpfründe” mit “Aktienge­sellschaft” und mit “Geschäfts­führung pri­vatisiert­er bzw. lib­er­al­isiert­er Unternehmen”
… erset­ze “Lehen” mit “Unternehmen im Fam­i­lienbe­sitz, mit GmbH etc.”
… erset­ze “Ämterkauf” mit “Aktien­paketkauf” und mit “Wer­be­bud­get”
… erset­ze “Pfrün­der­in­ter­essen” mit “Share­holder­in­ter­essen”
… erset­ze “Staat­spfrün­der­schicht” mit “Man­agerkaste”

und weit­er:

Um [im Ming-Chi­na] ihre Kar­riere zu fördern, machte sich ein erhe­blich­er Teil der gebilde­ten Klassen, die aus der Mit­telk­lasse stammten, frei­willig zu Kas­trat­en. Dank ihrer Bil­dung kon­nten sie eine her­vor­ra­gende Rolle spie­len, und in Wirk­lichkeit wurde das Reich von diesen Eunuchen regiert.

Nach­dem sie ein­mal hohe Posten erlangt hat­ten, unter­stützten sie ihre Fam­i­lien und schufen sich durch Verteilung von Ämtern und Lehen eine Klien­tel und wur­den so zu wahren Mächt­en inner­halb des Reich­es. Daher scheint die wichtige Rolle, die die Eunuchen gespielt haben, eine Funk­tion des Auf­stiegs der Bour­geoisie zu sein. Die Fürsten von Geblüt und die bedeu­ten­den Män­ner (les grands) sucht­en sich durch die Schaf­fung ein­er Klien­tel zu vertei­di­gen, die eben­falls aus Gebilde­ten aus der Mit­telk­lasse bestand und die sie dann im öffentlichen Dienst schneller voran­bracht­en. [..] Diese Kämpfe (zwis­chen der tra­di­tionellen Eunuchen­schicht, den Adli­gen und der Ming-Dynas­tie) waren um so ern­sthafter, da die Fürsten von Geblüt, die wichti­gen Män­ner und die Eunuchen alle eine Macht­ba­sis als Lan­dauf­se­her (maîtres du sol) hat­ten. Die Mings hat­ten ver­sucht, ihre Posi­tion durch die Schaf­fung ein­er Art Feu­dal­is­mus aus Ver­wandten und Anhängern wieder zu stärken. [..] Bei diesem Stand der Dinge waren die Bauern die Opfer. ((Mous­nier, Roland: His­toire Générale des Civil­i­sa­tions, Paris 1954))

… erset­ze “Eunuchen­klien­tel” mit “Funk­tionäre aus den Appa­rat­en der Volksparteien”
… erset­ze “Fürsten von Geblüt” mit “Gel­dadel”
… erset­ze “Ming-Dynas­tie” mit “Staat”
… erset­ze “Lan­dauf­se­her” mit “Auf­sicht­srat”
… erset­ze “Bauern” mit …

aus: Waller­stein, Immanuel (2004 [1974]):
Das mod­erne Welt­sys­tem I, S. 64–65

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