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Die Wahrhaftigkeit der Bildung

«Bil­dung durch Schul­bil­dung» – Teil I!

Erster Teil ein­er — geplanten — kleinen Serie über die gesellschaftliche Funk­tion der Schul­bil­dung für die soziale Insti­tu­tion “Bil­dung” all­ge­mein; und über die öster­re­ichis­che Schul­bil­dung im Speziellen.

 

Im ersten Teil dieser Serie von Betra­ch­tun­gen zu ‘Bil­dung’ bin ich von Maria There­sia (1717–1780) aus­ge­gan­gen, bzw. von dem pop­ulären Bild, diese “öster­re­ichis­che Kaiserin” habe 1774 die Schulpflicht für alle einge­führt. Das scheint halb richtig, halb falsch zu sein ((Richtig, Die all­ge­meine Schu­lord­nung für die deutschen Normal‑, Haupt- und Triv­ialschulen in sämmtlichen Kay­serl. Königl. Erblän­dern wurde unterze­ich­net. Richtig auch, das ist ein wichtiges Datum und bedeutete einen bedeu­ten­den Reform­schub.

Falsch, die Vorstel­lung, dass damit auch nur annäh­ernd wirk­lich ein durchge­set­ztes Schul­we­sen für alle durchge­set­zt wurde oder auch nur die notwendi­ge Basis geschaf­fen wurde. Falsch, die Vorstel­lung, dass dahin­ter die Inten­tion eines Zugangs zu Bil­dung für die Bevölkerung ges­tanden hat; son­dern vielmehr die Kon­trolle eines rel­e­vant wer­den­den Bürg­er­tums in den Städten. Falsch, die Vorstel­lung, dass das öster­re­ichis­che Kaiser­haus damit his­torisch früh nen­nenswerte Schritte in Rich­tung eines organ­isierten und bre­it­en Schul­we­sens geset­zt hätte. Im Ver­gle­ich mit z.B. Eng­land wird deut­lich, dass dort wohl zwar keine “all­ge­meine Verord­nung” unterze­ich­net wird, dafür ganz im Gegen­satz zum Hab­s­burg­er­re­ich sehr wohl ern­sthaft Schulen gebaut und Lehrer beschäftigt und bezahlt wer­den)).
Mit nur einem Min­dest­maß an nüchternem Abstand betra­chtet ist es nur mehr Hum­bug. Halb richtig erzeugt eben nicht halb­wegs stim­mige son­dern ganz falsche Bilder.

Von dem Datum vor gut 230 Jahren machen wir nun einen his­torischen Sprung von knapp 1½ Jahrhun­derten an das Ende der Regentschaft der Hab­s­burg­er. Dies­mal geht es nicht um das Infragestellen eines pop­ulären Bildes (, auf dem immer­hin bis heute aufge­baut wird). Dies­mal soll ein Bild her­vorge­holt und betra­chtet wer­den, dass der wun­der­bare Erzäh­ler Joseph Roth (1894–1939) als tief blick­ender Chro­nist des Nieder­gangs der k&k‑Monarchie geze­ich­net hat.
Ich zitiere aus den ersten Seit­en seines berühmtesten Romans Radet­zky­marsch:

Er las keine Büch­er, der Haupt­mann Trot­ta, und bemitlei­dete im stillen seinen her­anwach­senden Sohn, der anfan­gen musste, mit Grif­fel, Tafel und Schwamm, Papi­er, Lin­eal und Ein­maleins zu hantieren, und auf den die unver­mei­dlichen Lese­büch­er bere­its warteten.

Der Haupt­mann Trot­ta hat­te in der Schlacht von Solferi­no (1859) dem jun­gen Kaiser das Leben gerettet. Jet­zt war er, der einem lan­gen Zug bäuer­lich slaw­is­ch­er Vor­fahren aus dem Slowenis­chen entstammte, natür­lich in den Adels­stand erhoben wor­den. Das hat­te Vater und Sohn einan­der ent­fremdet, ohne dass das ein­er der bei­den das wollte oder ver­hin­dern hätte kön­nen.
Nun würde der Enkel des bäuer­lichen K&K‑Slawen und Sohn des Haupt­mann von Trot­ta, der freilich eine standes­gemäße Bil­dung zu erhal­ten hat­te, dem Vater durch diese eben­so ent­fremdet wer­den wie die Erhe­bung in den Adels­stand den Haupt­mann von dessen Vor­fahren dis­tanziert hat­te.
Die unver­mei­dlichen Lese­büch­er warteten bere­its. Aber noch war der Haupt­mann überzeugt, dass auch sein Sohn Sol­dat wer­den müsse. Es viel ihm nicht ein, dass ein Trot­ta einen andern Beruf würde ausüben kön­nen.

Bis er eines Tages das erste Lese­buch seines Sohnes, der ger­ade fünf Jahre alt gewor­den war und den eine Hauslehrer schon, dank dem Ehrgeiz der Mut­ter, die Nöte der Schule viel zu früh schmeck­en ließ, mit läs­siger Neugi­er in die Hand nahm. Er las das gereimte Mor­genge­bet, es war seit Jahrzehn­ten das gle­iche, er erin­nerte sich noch daran. Er las die «Vier Jahreszeit­en», den «Fuchs und den Hasen», den «König der Tiere». Er schlug das Inhaltsverze­ich­nis auf und fand den Titel eines Leses­tück­es, das ihn selb­st zu betr­e­f­fen schien, denn es hieß: «Franz Joseph der Erste in der Schlacht bei Solferi­no».

Jedes Wort sitzt bei Joseph Roth, präzis im Detail und ohne viel Aufwand zeich­net er ein kom­plex­es Gesamt­bild.

  • Der Haupt­mann selb­st las keine Büch­er. Er war eigentlich immer noch Armeeslawe”. Ein solch­er las nicht. Und als in den Adels­stand erhoben­er Haupt­mann bleibt sein Mis­strauen gegenüber dieser Prax­is ander­er Stände beste­hen.
  • Den Sohn kann der Haupt­mann und Vater freilich nicht so erziehen, wie er erzo­gen wurde. Der Stand entschei­det, welche Bil­dung adäquat ist, die Lese­büch­er, der Hauslehrer, Grif­fel und Papi­er sind für den Sohn viel unver­mei­dlich­er als sie für den Vater als Sohn bäuer­lich­er Armeeslawen jemals waren.
  • Die Frau des Haupt­manns und Mut­ter des Sohns ist ehrgeizig. Klar, die ehrgeizige Mut­ter, ein Klis­chee, oder? Nur, ist es ihr indi­vidu­eller Ehrgeiz oder der Ehrgeiz (bzw. die Logik) des Stands?
  • Der Vater ist dis­tanziert. Es ist klar, das ihn seine Bil­dung von der Bil­dung seines Stands tren­nt; von der standes­gemäßen Bil­dung.
  • Der Haupt­mann von Trot­ta ist “durch Leis­tung” in diesen Stand aufgestiegen, unfrei­willig, und er fühlt sich nicht “zu Hause”. Die Kluft ist eine Bil­dungskluft. Und am Kind, das bere­its zur Gänze im Adels­stand aufwach­sen wird, ist die Dis­tanz zwis­chen Armeeslawen und Adeligem konkret spür­bar. Es ist eine Kluft und eine Dis­tanz, die quer durch die Fam­i­lie geht. ((Wir merken, “der Stand” ist eine Heimat, eine com­mu­ni­ty, ein zu Hause … und ob dieses zu Hause funk­tion­iert hat viel mit standes­gemäßem Habi­tus, mit standes­gemäßer Sprache und Bil­dung zu tun.))
  • Die Lese­büch­er sind noch vor einem weit­eren Hin­ter­grund unver­mei­dlich. Ihr Inhalt, die Leses­tücke, sind seit Jahrzehn­ten die gle­ichen. Nicht nur die Lese­büch­er, auch die Inhalte, die Leses­tücke, ihre The­men und Aus­sagen sind unver­mei­dlich.

Roth’s Haupt­mann Trot­ta:

… schlug das Inhaltsverze­ich­nis auf und fand den Titel eines Leses­tück­es, das ihn selb­st zu betr­e­f­fen schien, denn es hieß: «Franz Joseph der Erste in der Schlacht bei Solferi­no»; las und musste sich set­zten. «In der Schlacht bei Solferi­no» – so begann der Abschnitt – «geri­et unser Kaiser und König Franz Joseph der Erste in große Gefahr.» Trot­ta selb­st kam darin vor. Aber in welch­er Ver­wand­lung! «Der Monarch» – hieß es – «hat­te sich im Eifer des Gefechts so weit vorgewagt, dass er sich plöt­zlich von feindlichen Reit­ern umdrängt sah. In diesem Augen­blick der höch­sten Not sprengte ein blutjunger Leut­nant auf schweißbe­deck­tem Fuchs her­bei, den Säbel schwin­gend. Hei! wie fie­len da die Hiebe auf Kopf und Nack­en der feindlichen Reit­er!» Und fern­er: «Eine feindliche Lanze durch­bohrte die Brust des jun­gen Helden, aber die Mehrzahl der Feinde war bere­its erschla­gen. Den blanken Degen in der Hand, kon­nte sich der junge, uner­schrock­ene Monarch leicht der immer schwäch­er wer­den­den Angriffe erwehren. Damals geri­et die ganze feindliche Reit­erei in Gefan­gen­schaft. Der junge Leut­nant aber – Joseph Rit­ter von Trot­ta war sein Name – bekam die höch­ste Ausze­ich­nung, die unser Vater­land seinen Helden­söh­nen zu vergeben hat: den Maria-There­sienor­den

Hei! wie Juch­heisa funkel­nd und blitzend Krieg nicht sein kann und Sap­per­lot! wie brav, stramm und tüchtig nicht unsere Burschen sein kön­nen. ((Assozi­a­tio­nen mit ORF-Sportüber­tra­gun­gen, der Präsen­ta­tion volk­stüm­lich­er Musik oder völkisch­er Poli­tik sind an dieser Stelle nicht intendiert!!!)) Der kann sich da natür­lich nicht wieder­erken­nen. Schließlich ist er ges­tanden­er Infan­ter­ist. Die Schlacht des 19. Jhdts ist über weite Streck­en das Artillerie unter­stützte Infan­teriegemet­zel, wie es im us-amerikanis­chen Bürg­erkrieg auf die Spitze getrieben wurde. Eine feindliche Lanze??? Er war von der Kugel eines Scharf­schützen getrof­fen wor­den, nach­dem er den Trot­tel von Kaiser, der beim Durch­schre­it­en der Infan­terielin­ien in ein­er Schlacht­pause einen Feld­stech­er ans Auge führen wollte – für die geg­ner­ische Infan­terie ein untrüglich­es Zeichen für eine mil­itärisch höher gestell­teren Per­sön­lichkeit – instink­tiv niederg­eris­sen hat­te.

Wie auch immer, die Geschichte des k&k‑Lesebuchs aus dem späten 19. Jahrhun­dert ist nicht so viel anders gestrickt als in gegen­wär­tig offiziell kriegführen­den Natio­nen (siehe USA, GB, R) die aktuelle Berichter­stat­tun­gen von aktuellen Kriegss­chau­plätzen.
Unser Held von Solferi­no ist allerd­ings nicht nur selb­st betrof­fen son­dern offen­sichtlich auch … ähm … naiv?

Haupt­mann Trot­ta ging, das Lese­buch in der Hand, in den kleinen Obst­garten hin­ter das Haus, wo sich seine Frau an lin­deren Nach­mit­ta­gen beschäftigte, und fragte sie, die Lip­pen blaß, mit ganz leis­er Stimme, ob ihr das infame Leses­tück bekan­nt gewe­sen sei. Sie nick­te lächel­nd. «Es ist eine Lüge!» schrie der Haupt­mann und schleud­erte das Buch auf die feuchte Erde. «Es ist für Kinder», antwortete san­ft seine Frau.

Fort­set­zung fol­gt

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